Der Schattensucher (German Edition)
besucht und es waren jedes Mal offizielle Anlässe gewesen. Der Erbauer hatte ihn dabei nur wenig beachtet, viel öfter war er ins Gespräch mit anderen Leuten vertieft gewesen, Leuten, die einen niedrigeren Rang hatten als er. Wenn der Erbauer wüsste, wie häufig Jason schon gehungert hatte, nur um länger arbeiten zu können – er hätte ihn schon längst einmal zum Essen eingeladen.
Vermutlich war der Erbauer noch immer zornig wegen der Sache mit Sallas. Deshalb konnte er ihm wohl auch nicht dankbar sein dafür, dass Jason die teuflischen Ritter vernichtet hatte. Der Erbauer hatte ihn stattdessen getadelt, angeblich deshalb, weil Jason sich nicht an die Vorgaben gehalten hatte. Aber eigentlich, da war Jason sich sicher, war der Erbauer nur enttäuscht darüber, dass er ihm noch immer nicht den Eindringling gebracht hatte.
Jedes Mal, wenn Jason an diesen Kerl dachte, durchlief ihn ein Schauer. Die nächste Begegnung, das hatte er beschlossen, würde er nicht überstehen. Er hatte seit Tagen so eine Ahnung, auch wenn er sich nie getraut hätte, sie vor einem anderen zu äußern. Der Hund hatte ihn darauf gebracht und schließlich seine Beobachtungen: wie er sich bewegte, überhaupt seine Statur. Und vieles würde auf einmal Sinn ergeben. Wie sollte beispielsweise der Eindringling den geheimen Beobachtungsposten beim Labor entdeckt haben? Wenn diese Ahnung ihn nicht täuschte, würde er seinem Erbauer bald das große Geschenk machen, das er schon so lange wünschte. Und er, Jason, würde mit einem umso größeren Geschenk belohnt werden. Es fehlten nur noch die Beweise.
Seine Augen brannten, als er in den nächtlichen Hof hinunterschaute. Ab und zu lief eine Wache vorbei. Ansonsten sah er nur eine ruhige, unbewegte Kiesfläche.
Etwa zwei Stunden vor Mitternacht hörte er ein Geräusch. Alles in ihm wurde hellwach. Die Tür öffnete sich und Linus trat heraus. Er wirkte unsicher, schaute um sich. Und das Merkwürdigste: Er trug einen großen Beutel. Jason sah ihm nach, wie er in der Passage verschwand, dann eilte er hinunter, rannte über den Hof, durch die Passage und sah gerade noch, wie Linus im Palast verschwand. Langsamen Schrittes näherte Jason sich dem Tor und bat um Einlass.
Drinnen wandte er sich an einen Diener. »Ich möchte Hauptmann Linus sprechen. Er ist doch hier, nicht wahr?«
»Ja, Herr. Er ist gerade zu den Gemächern des Grafen hinaufgegangen.«
»Sagte er, was er dort möchte?«
»Nein, Herr.«
»Ich danke Euch.« Er ging die Treppe zum dritten Stock hinauf. Dabei unterdrückte er den Groll, der in ihm aufsteigen wollte. Schon wieder empfängt ihn der Erbauer außerhalb der Dienstzeit. Aber wieso dieser Beutel?
Im Gang vor den Gemächern traf er einen Wächter an. »Ich möchte Hauptmann Linus sprechen.«
»Er ist eben ins Labor gegangen.«
»Danke. Ist der Erbauer bei ihm?«
»Nein. Der Erbauer ist in der Bibliothek.«
»So? Interessant. Ich danke Euch.«
Der Wächter ging weiter, Jason öffnete vorsichtig die Tür zum Labor. Er hatte sich einen Vorwand überlegt, den er anbringen konnte, falls er sich geirrt haben sollte. Wenn er Linus jedoch bei etwas Verbotenem erwischte, brauchte er diesen Vorwand nicht.
Er hob die Augenbrauen, als er feststellte, dass das Labor leer war. Das konnte nicht sein. Kurz untersuchte er einige Schlupflöcher, die es hier geben mochte, doch es kam ihm albern vor. War er drüben in der Bibliothek? Er spähte durchs Schlüsselloch. Der Erbauer saß in ein Buch vertieft an seinem Tisch, kein Mensch in der Nähe. Auch im Gemach des Erbauers konnte er nicht sein, denn der Erbauer war der Einzige, der einen Schlüssel dafür hatte.
Jason überlegte, dachte an den Beutel, dann dämmerte es ihm. Von einem Geheimgang zum Labor hatte er mindestens einmal etwas gehört. Er hatte das nicht geglaubt und schnell wieder vergessen. Jetzt schien es ihm die einzige Möglichkeit. Und wenn es ein Gang war, der nach draußen führte, war Linus womöglich schon außerhalb von Briangard.
Den habe ich verloren , dachte er sich. Aber nein. Eine Chance blieb ihm. Sollte sein Verdacht wahr sein, kannte Jason zumindest einen Ort, wo er sich aufhalten konnte. Es war bei Weitem keine sichere Sache, aber es war eine Möglichkeit. Außerdem beschloss er, dass er sich nun auf seinen Instinkt verlassen musste.
Schnurstracks verließ er das Labor und ließ alle verwunderten Wachen hinter sich, als er die Treppe zur Eingangshalle hinunterstürmte. Er ging über den Vorhof, durch
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