Der Schattensucher (German Edition)
völlig unbedeutenden Vorgängen. Wenn er Dienst hatte, ging er manchmal schweigend durch den Palast, sah seine Untergebenen mit schwermütigem Blick an und freute sich gleichzeitig insgeheim, wenn sie seine Vorgaben umsetzten. Einige konnten sich schon sehr unauffällig bewegen, manchmal wurde er selbst von ihnen überrascht.
In seinen Gedanken spielten sie aber nur eine nebensächliche Rolle. Was ihn beschäftigte, waren große, dringende Fragen. Es war vor allem die Frage, ob er wohl noch oft durch diesen Palast gehen würde. Mit jedem Streifzug durch sein neues Reich schien ihm der Verlust größer, den er in Kauf nahm, wenn er zu Darius ging. In kürzester Zeit war er zum Herrn über mehrere Dutzend Männer und Frauen geworden, früher war er nur Herr über sein eigenes Leben gewesen. Das hatte ihm immer ausgereicht, zumal er das Gefühl gehabt hatte, ein erfolgreicher Herr zu sein. Würde es ihm weiterhin reichen, jetzt, wo er all das erlebt hatte?
Und Thanos. Er würde ihn nie wiedersehen. Nie mehr würde er dem einzigen Mann begegnen, der es immer wieder schaffte, ihn zu verunsichern, indem er ihm Sicherheit anbot. Levin hasste Sicherheit, die er sich nicht selbst erschaffen hatte. Sie war für ihn das Gefährlichste von allem. Aber weil er zugleich die Gefahr liebte, reizte ihn jeder Schritt in die Welt, die Thanos ihm öffnete. Was er darin entdeckte, faszinierte ihn. Es war der abenteuerlichste Einbruch, den er jemals unternommen hatte. Tür um Tür drang er tiefer in das Gebäude ein und immer herrschte das Gefühl, dass er es noch ein kleines bisschen weiter schaffen konnte. Ein kleines bisschen, dann würde er umkehren und mit seiner Beute fliehen.
Doch wann hatte er die Stelle erreicht, an der die Tür hinter ihm zuschlug? Wann würde er vom Einbrecher zum Gefangenen werden? Sie konnte nicht mehr weit sein, diese Tür. Vermutlich – dahin führten ihn seine Gedanken in diesen Tagen immer wieder –, vermutlich schnappte die Falle zu, wenn er nächste Woche das Treffen besuchen würde. Dann war er ein Eingeweihter, dann gehörte er zu ihnen – oder er musste sterben.
So betete er sich bei allen Grübeleien immer wieder den einen Satz vor: Entweder gehe ich zu Darius oder ich gehe zu dem Treffen und bin womöglich für immer hier eingesperrt.
Viel weiter kam er nicht. Je näher der Tag rückte, umso schwerer lastete die Tatsache auf ihm, dass er sich zwischen diesen beiden Dingen entscheiden musste. Er hatte alles beisammen, was er für Darius brauchte. Er hatte Theklas Namen, er kannte den Geheimgang und wusste von der Giftmischung. Darius würde ihm einen ungeheuren Lohn auszahlen, von dem er Elena einen beträchtlichen Teil abgeben würde. Er würde seinen Stein zurückbekommen, von denen es auf Briangard freilich eine Menge gab. Und dann würde er wieder seinen Mantel überziehen und in den unzähligen, unüberschaubaren Winkeln der Stadt zu Hause sein. Man würde wieder über den Schattensucher sprechen und gleichzeitig wäre er selbst keinem Menschen mehr bekannt. Freiheit , so hatte er das immer genannt. Ja, er hatte alles beisammen, was er für seine Rückkehr brauchte. Was ihm fehlte, war die Vorfreude auf seine Freiheit.
Wenn Elena zu Hause an ihm vorüberging, durchzuckte ihn immer ein stechender Schmerz. Er wusste nicht recht, woher das kam. Aber er redete sich ein, dass es wohl eine Art Mitleid war. Elena hatte keine Ahnung, welches Schicksal ihr blühte. Vielleicht wäre es gnädig gewesen, es ihr zu sagen. Doch was dann? Was änderte das? Niemand konnte sie retten, außer Thanos vielleicht – aber auch das war höchst unwahrscheinlich.
Häufig fragte er sie, wie es ihr gehe und ob die Schmerzen wiedergekommen seien. Sie verneinte immer und schaute ihn verwundert an. »Mit mir ist alles in Ordnung«, sagte sie. Doch Levins sorgenvolles Nachfragen schien sie zu berühren, denn jedes Mal wandte sie sich schnell um und ging weiter, ehe ein warmes Leuchten über ihr Gesicht ziehen konnte und ihre Grübchen sich zeigten. Wenn Levin die Grübchen im Augenwinkel erahnte, konnte auch er einen warmen Schauer nicht unterdrücken und musste sich eingestehen, dass das alles nichts mit Mitleid zu tun hatte.
In dieser Nacht waren die zwei Wochen um. Levin machte sich klar, dass er seine Grübeleien beenden und zu Taten übergehen musste. Eigentlich war es ganz einfach. Er packte alle Dinge, die er brauchte, in seinen großen Beutel. Ein paar Nebensächlichkeiten ließ er im Haus. Elena schlief
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