Der Schatz der gläsernen Wächter (German Edition)
besser können als du!«
»Bis jetzt bin ich gut ohne ausgekommen.«
»Bis jetzt.«
Er strich sich weiter über die Narbe.
»Wovor hast du solche Angst?«
»He, ich hab keine Angst!«
»Meinst du, ich lache dich aus?«
Er schwieg.
Kriss seufzte schwer. »Na gut. Ich rufe dich dann, wenn ich etwas gefunden habe.« Sie schlug den Atlas wieder auf.
»Ich will ja helfen«, sagte Lian.
Sanft lächelnd schob Kriss ihm ein Buch zu: Ibolams Märchenkompendium . Eigentlich ein Buch für Kinder, mit großer, einladender Schrift. Lian sah es an, als wäre es aus der Erde gekrochen. »Dann lass uns anfangen«, sagte sie.
Die Zeit verstrich. Die Seevögel verloren das Interesse an der Windrose und flogen mit schaumweißen Schwingen davon. Umi schlief auf Kriss’ Schulter ein. Dann und wann blickte sie von ihrer Lektüre auf und sah gerührt, wie Lian sich abmühte. Er hielt den Finger unter die Zeilen und bewegte dabei mal mehr, mal weniger stumm die Lippen. Hatte sie zehn Seiten durch, steckte er noch in der Mitte eines Absatzes fest. Wann immer er merkte, dass sie ihn beobachtete, schien er sich noch mehr Mühe zu geben, auch wenn es ihn noch so sehr frustrierte. Kriss konnte sich nicht vorstellen, wie es sein musste, Angst vor Büchern zu haben und sich vor Buchstaben zu fürchten.
Bald wurde es Abend. Die Sonne versank hinter den Wellen und ließ den Himmel in Flammen aufgehen. Kriss hatte bereits drei Bücher hinter sich gebracht, ohne den leisesten Hinweis auf einen ersten Stern zu finden (oder einen letzten Krieger) und verfluchte Veribas abermals für seine Rätselleidenschaft. Dennoch kämpfte sie sich vorwärts, Zeile für Zeile, Seite um Seite, Fußnote um Fußnote, bis sie glaubte, ihre Augen hätten sich in gekochte Glastrauben verwandelt, die jemand mit Sand bestreut hatte. Sie legte das Buch zur Seite – Vergleichende Mythologie von Brimon Gorenschi – nahm ihre Brille ab und massierte sich die geschlossenen Lider.
»Ich wette, dies ist der seltsamste ›besondere Auftrag‹, auf den dich die Baronin je geschickt hat«, sagte sie zu Lian.
»Nö. Einmal musste ich für sie einen zweiköpfigen Murmeldodo fangen. Das war besonderer.«
Sie starrte ihn an.
»Beruhig’ dich!« Er lachte. »Das war’n Witz!«
Kriss beruhigte sich. Das Gefühl, dass ihr der Kopf rauchte, blieb trotzdem. Sie lehnte sich zurück. Umi und sie seufzten fast zeitgleich. »Was hast du sonst für sie getan?«
»Nichts Aufregendes.« Lian blätterte weiter in seinem Märchenkompendium, ohne sie anzusehen. Sein Tonfall war beiläufig. »Vertrauliche Briefe überbracht, oft an ihre Freunde im Ausland. Manchmal hab’ ich auch Stücke aus ihrer Sammlung zu deren Käufern gebracht, nur um sicherzugehen, dass alles glattläuft.«
»Ich wusste gar nicht, dass sie auch mit Kunstgegenständen handelt.« Kriss unterdrückte ein Gähnen. Ihr Magen wies unmissverständlich darauf hin, dass es Zeit fürs Abendessen wurde.
»Was meinst du, wie sie sich das riesige Haus und zwei Luftschiffe leisten kann?«, fragte Lian, ins Buch vertieft.
»Sie muss viel von dir halten, wenn sie dich mit solchen Aufgaben betraut. Und dieser Expedition.«
Er zuckte die Achseln.
»Und wohin hat sie dich so geschickt?«
»Warum willst du das wissen?«, fragte er. Nicht scharf, aber mit einem Ton, der klar machte, wie unangenehm ihm ihre Fragen waren.
»Weil ich neugierig bin«, sagte sie verteidigend. »Ich will dich nur besser kennenlernen, das ist alles.«
Endlich sah er auf. »Da gibt es nicht viel ...« Er brach ab und sah sie an. Er lächelte.
»Was ist?«
»Du siehst anders aus ohne Brille.«
Sie runzelte die Stirn. »Wie anders ?«
» Schön anders«, sagte er. »Na ja, vielleicht nich’ schön, aber hübsch. Gut, vielleicht nich’ hübsch, aber ...«
Kriss verzog verärgert den Mund. »Ich glaube, irgendwo in diesem Satz versteckt sich ein Kompliment.«
»Du wirst ja rot!« Er lachte.
»Blödsinn.«
»Brauchst du ’nen Spiegel?«
»Was ich brauche, ist Ruhe zum Lesen!«, sagte sie und spürte das heiße Blut in ihrem Gesicht.
Grinsend widmete Lian sich wieder seinem Buch. Auch Kriss versuchte, sich erneut aufs Lesen zu konzentrieren. Vergeblich. Vorsichtig spähte sie über den Buchrand. Warum hatte er das gesagt? Um sie zu verunsichern? Wenn ja, dann hatte er es geschafft.
Sie schlug ihr eigenes Buch wieder auf: Die Erschaffung der Welt in allen Religionen und Mythen, zusammengetragen, untersucht und verglichen von
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