Der Schatz der gläsernen Wächter (German Edition)
ihm traten Soldaten vor. Kriss sah, wie Lian die Muskeln anspannte. Aber letztlich schien ihm klar zu sein, dass sie ihn durchlöchern würden, wenn er auch nur falsch blinzelte. Also wehrte er sich nicht, als die Soldaten sie nach Waffen abtasteten. Trotzdem: Wenn Blicke töten könnten , dachte Kriss.
»Ihr macht einen Fehler!«, erklärte sie dem Hauptmann, als man sie beide in Ketten legte. Es überraschte sie, wie gut sie ihre Stimme unter Kontrolle hatte. »Wir sind milorianische Bürger und unsere Botschaft weiß, dass wir hier sind!« Es war ziemlich schlecht gelogen, das wusste sie.
»Erzählt das jemanden, den es interessiert.« Auf eine Handbewegung des Hauptmanns wurden sie abgeführt.
Eine schwarze Kutsche, überdacht und mit Gitterstäben vor den Fenstern, stand bereit. Die beiden Stelzer, die ihr vorgespannt waren, klapperten unruhig mit den Hufen auf dem Pflaster.
»Rein da und Maul halten!«, befahl eine Soldatin. Kriss und Lian gehorchten. Die Kutschtür wurde geschlossen und verriegelt. Sie fuhren los.
»Tja, man soll den Tag halt nich’ vor dem Abend loben.« Lian verzog humorlos die Mundwinkel.
»Sie haben nichts vom Museum gesagt«, flüsterte Kriss verwirrt. »Aber wenn sie nichts davon wissen, warum sollten sie uns festnehmen?« Ihr Herzschlag wollte sich nicht beruhigen. Was warf man ihnen vor? Was würden sie mit ihnen machen? Wo brachte man sie hin? »Vielleicht ist es nur ein Missverständnis!«
»Klar«, sagte Lian. »Sicher woll’n sie uns nur zum Tee einladen.«
»Das ist nicht witzig!«
»Meinst du, das wüsst’ ich nich’?«, schnappte er. Kriss zuckte zusammen.
»Der Kapitän wird nach uns suchen.« Sie sah durch das vergitterte Fenster aufs Meer, konnte jedoch die Windrose nirgends ausmachen. »Vielleicht kann er uns helfen ...«
Die Kutsche ließ die Stadt hinter sich und folgte einer Landstraße nach Westen. In der Ferne erkannte Kriss die fantastischen Türme des Fürstenpalastes; weiße und silberne Mauern strahlten im Mondlicht. Wieso bringen sie uns hierher?
Auf einem Innenhof öffneten die Soldaten die Kutsche und bedeuteten ihnen mit vorgehaltenen Musketen, auszusteigen. Kriss und Lian taten, wie ihnen geheißen. Man führte sie zu einem dampfbetriebenen Aufzug; Kriss’ drehte es den Magen um, als die hölzerne Kiste plötzlich in die Höhe schoss.
Sie wurden in ein Zimmer mit Dielen aus Bernsteinholz und stuckverzierten Wänden gebracht. Die Wachen verteilten sich im Raum, ohne ihre Musketen zu senken, während vergangene Herrscher mit strengen Mienen von goldgerahmten Gemälden auf sie herabsahen. Die umstehenden Möbel – ein Sofa und mehrere Sessel um einen Tisch – sahen zu teuer aus, um benutzt zu werden, aber man hatte den Gefangenen ohnehin keinen Sitzplatz angeboten.
»Und jetzt?«, fragte Lian.
Kriss erschrak, als ein Schmetterhorn geblasen wurde. Ein Diener mit weiß gepuderter Perücke erschien an der Tür und hämmerte mit einem Zeremonienstab auf den Boden. »Ihre Durchlaucht, Fürstin Jellisande IV., Tochter des Hauses Mellramon, Herrscherin von Hestria und Verteidigerin des Glaubens, Licht ihrer Untertanen, Geißel ihrer Feinde!«
Eine junge Frau trat ein, keine drei Jahre älter als Kriss. Sie trug ein Kleid, bestickt mit weißen Daunen um den schlanken Körper und Perlenketten im Haar. Ihr hübsches Gesicht war marmorbleich geschminkt, mit schillernden Schleifenmustern um die Mandelaugen. Sie bewegte sich, als gehörte ihr nicht nur das Fürstentum, sondern das ganze Universum.
Ihr Begleiter schien einiges zu ihrer Selbstsicherheit beizutragen, denn an ihrer Seite schritt ein ausgewachsener Eislöwe. Sein dichter Pelz und die stattliche Mähne hatten die Farbe von frisch gefallenem Schnee und seine Augen funkelten rot wie geschliffener Karneol, als sie Kriss und Lian ansahen.
Fürstin und Eislöwe gingen an den Gefangenen vorbei, als würden sie gar nicht existieren. Jellisande IV. ließ sich auf das Sofa vor ihnen nieder und schlug die langen Beine übereinander. Ihre Hände steckten in Abendhandschuhen aus weißer Spitze. Mit der Linken öffnete sie einen Seidenfächer, während sie mit der Rechten die Mähne ihrer Schoßbestie streichelte. Erst jetzt schien sie Kriss und Lian wahrzunehmen und musterte beide mit süffisantem Lächeln. »Ich bekomme normalerweise selten Besuch zu dieser Zeit«, sagte sie und Lian prustete fast los, als er das Lispeln der Herrscherin hörte. Ihm verging das Lachen sofort, als der Eislöwe die
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