Der Scheich
Reisen ihren Horizont erweitern und ihr mehr beibringen als alle Schulbücher. So wurde Diana innerhalb eines einzigen Tages erwachsen. Vierzehn Tage später hatte sie ihr altes Leben hinter sich gelassen. Nun zog sie schon seit sechs Jahren mit ihrem Bruder um die Welt - und fast jeder Tag brachte neue Abenteuer, neue Aufregungen und Gefahren.
In Erinnerungen versunken, saß sie auf der breiten Balustrade des Balkons, an die Säule gelehnt. «Es war ein wunderbares Leben», flüsterte sie, «und morgen - nein, heute - beginnt der schönste Teil.» Plötzlich mußte sie gähnen und spürte, wie müde sie war. Sie kehrte ins Zimmer zurück, schlüpfte aus ihrem Schlafrock und kroch ins Bett. Sobald ihr Kopf das Kissen berührte, schlief sie ein.
Etwa eine Stunde später wachte sie wieder auf. Reglos lag sie da und spähte vorsichtig durch die dichten Wimpern. Mondlicht erhellte den Raum. Obwohl sie nichts sah, spürte sie genau, daß noch jemand im Zimmer war. Im Augenblick des Erwachens hatte sie, nur halb bewußt, etwas wahrgenommen - eine schattenhafte Gestalt, die durch die Glastür davongehuscht war. Als sie begriff, was das zu bedeuten hatte, war sie mit einem Mal hellwach. Kurz entschlossen sprang sie aus dem Bett und stürzte auf den Balkon: niemand. Angespannt lauschte sie, neigte sich über die Brüstung, doch sie sah und hörte nichts. Also kehrte sie ins Zimmer zurück und knipste verwirrt das Licht an. Offenbar fehlte nichts. Die Uhr lag auf dem Toilettentisch, die Koffer waren unberührt. Auf dem Nachttisch sah sie den Revolver mit dem Elfenbeingriff, den sie stets bei sich trug. Mit gerunzelter Stirn schaute sie sich um. «Sicher nur ein Traum», murmelte sie zweifelnd, «aber sehr wirklich ... Diese Gestalt war groß und weiß - und ich fühlte ihre Gegenwart.» Ein paar Sekunden lang wartete sie noch, dann löschte sie achselzuckend das Licht und sank ins Bett. Da sie sich nicht so leicht bange machen ließ, schlief sie nach fünf Minuten wieder ein.
Zweites Kapitel
Die versprochene Abschiedszeremonie war ein großes Ereignis gewesen, und dank der lückenlosen Reisevorbereitungen gab es keinerlei Schwierigkeiten. Der tüchtige Führer Mustafa Ali zog sich zurück, wenn er nicht gebraucht wurde, und beantwortete alle Fragen höflich und würdevoll. Der Tag war hochinteressant gewesen. Den langen Ritt durch die Hitze empfand Diana als angenehme körperliche Herausforderung.
Abends erreichten sie die Oase, wo die Diener bereits ein Zeltlager aufgeschlagen hatten. Alles war in bester Ordnung, so daß Sir Aubrey keinen Grund zur Klage fand. Nicht einmal Stephens, sein Kammerdiener und langjähriger Reisebegleiter, der alle Camps genauso kritisch inspizierte wie sein Herr, hatte etwas zu bemängeln.
Zufrieden schaute sich Diana in ihrem Zelt um. Es war viel kleiner, als sie es gewöhnt war. Und es wirkte geradezu lächerlich, verglichen mit jenem riesigen Zelt samt separatem Bad und Ankleideraum, das sie ein Jahr zuvor in Indien bewohnt hatte. Dort war sie von zahlreichen Dienstboten umsorgt worden. Aber in der Wüste wollte sie auf den gewohnten Komfort verzichten, den Sir Aubrey so wichtig nahm, und das einfache Leben ausprobieren.
Das schmale Feldbett, die Blechwanne, der winzige Klapptisch und die beiden Koffer schienen das ganze Zelt auszufüllen. Obwohl Diana ihre Decke beim Waschen bespritzt hatte und das Seifenstück irgendwie in eine Stiefelspitze geraten war, lachte sie über die Unbequemlichkeit. Sie hatte ihre Reitkleidung mit einer eng anliegenden jadegrünen Seidenrobe vertauscht, deren Saum bis zu ihren schlanken Knöcheln reichte. Im tiefen Dekolleté schimmerte der weiße mädchenhafte Busenansatz. Als sie ihr Zelt verließ, erwiderte sie belustigt den zweifelnden Blick des Kammerdieners, der neben seinem Herrn stand. Sie hatte sich verspätet, und Sir Aubrey legte großen Wert darauf, seine Mahlzeiten pünktlich einzunehmen.
Ungeduldig rekelte er sich in seinem Klappstuhl, die Beine auf einem zweiten. Diana hob mahnend einen Zeigefinger. «Beeilen Sie sich, Stephens, und servieren Sie die Suppe! Wenn sie kalt wird, gibt's ein Donnerwetter.» Sie betrat die Segeltuchplane, die man vor den Zelten ausgebreitet hatte, und betrachtete entzückt die Oase - die hohen Palmen im Dämmerlicht und die Wüste, die sich sanft gewellt bis zu den fernen dunklen Bergen am Horizont erstreckte. In tiefen Zügen atmete sie die warme Luft ein. Endlich war sie am Ziel ihrer Träume. Erst in diesem Augenblick
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