Der Scheich
ihren Füßen, neben einem Pferd, dessen Zügel über ihrem Arm hingen.
Unter dem Foto stand: «Miss Diana Mayos Wüstenreise dauert nun schon ungewöhnlich lange, was ihrem großen Freundeskreis Sorge bereitet. Vor vier Monaten verließ sie Biskra in Begleitung eines anerkannten Karawanenführers, in der Absicht, die Wüste vier Wochen lang zu erforschen und dann Oran aufzusuchen. Seit ihr erstes Lager abgebrochen wurde, hörte man nichts mehr von Miss Mayo oder ihrer Karawane. Auch aus anderen Gründen muß man um Miss Mayos Sicherheit bangen. In der Gegend, durch die ihre Reiseroute führt, sind angeblich heftige Unruhen unter den Araberstämmen ausgebrochen. Wie uns gemeldet wurde, steht ihr Bruder, Sir Aubrey Mayo - derzeit infolge eines Unfalls in Amerika festgehalten -, in ständiger telegraphischer Verbindung mit den französischen Behörden. Miss Mayo ist eine bekannte Sportlerin und weit gereist.»
Minutenlang starrte der Scheich die Fotos wortlos an, ehe er die Seite aus der Illustrierten riß und zusammenfaltete.
«Mit deiner Erlaubnis», sagte er kühl und hielt sie über die Flamme der kleinen Nachttischlampe. Er wartete, bis das Papier verkohlt war, und streifte dann die Asche von seinen schlanken Fingern.
«Hat Henri die Bilder gesehen?»
«Zweifellos, da er alle meine Zeitungen und Magazine liest», entgegnete Saint Hubert, ohne seine Ungeduld zu verhehlen.
«Sicher kann er den Mund halten», meinte der Scheich nonchalant, zog ein Etui aus der Tasche und zündete sich noch eine Zigarette an.
«Was wirst du unternehmen?»
«Ich? Nichts! Die französischen Behörden haben genug andere Probleme und schätzen Ahmed Ben Hassans Zuchtpferde viel zu sehr, um gegen mich zu ermitteln. Außerdem tragen sie keine Verantwortung. Mademoiselle Mayo wurde vor dieser gefährlichen Reise gewarnt, bevor sie Biskra verließ. Aber sie beschloß, das Wagnis einzugehen - et voilà !»
«Also kann ich dich nicht umstimmen?»
«Ich lasse mich niemals umstimmen, das weißt du. Warum sollte ich auch? Und wie ich bereits sagte, sie ist zufrieden.»
«Zufrieden!» Saint Hubert schaute seinem Freund eindringlich in die Augen. «Eingeschüchtert - dieses Wort würde besser passen, Ahmed.»
«Du schmeichelst mir, Raoul», entgegnete der Scheich und lachte leise. «Reden wir nicht mehr darüber. Daß du Diane hier getroffen hast, ist ein unglückseliger Zufall - und ich bedauere, daß er dich bedrückt», fügte er leichthin hinzu. Dann veränderte sich sein Tonfall, und er legte dem Vicomte die Hände auf die Schultern. «Aber diese kleine Meinungsverschiedenheit soll unsere Freundschaft nicht beeinträchtigen, mon ami . Du bist ein französischer Aristokrat, und ich...» Ein bitteres Lächeln verzog seine Lippen. «Und ich bin ein unzivilisierter Araber. Also können wir die Welt nicht mit den gleichen Augen sehen.»
«Oh, du könntest meinen Standpunkt verstehen - aber du willst es nicht, Ahmed», seufzte der Vicomte. «Und das ist deiner unwürdig.» Resigniert zuckte er die Achseln. «Doch du hast recht, nichts würde jemals einen Keil zwischen uns treiben. Obwohl ich anderer Meinung bin als du, kann ich die Erinnerung an die letzten zwanzig Jahre nicht auslöschen.»
Einige Minuten später verließ ihn der Scheich und wanderte durch die Nacht. Langsam legte er die kurze Strecke zwischen den beiden Zelten zurück, hielt inne, um mit einem Wachtposten zu sprechen, und blieb schließlich vor dem Eingang seines Zeltes stehen, um die Sterne zu betrachten.
Der persische Hund, der stets vor dem Zelt schlief, richtete sich auf und schob seine feuchte Nase in die Hand seines Herrn. Geistesabwesend streichelte Ahmed den großen, zottigen Kopf. Eine seltsame Unrast, die seinem Wesen völlig fremd war, hatte ihn ergriffen. Schon seit einiger Zeit spürte er, wie sie in ihm wuchs und jeden Tag stärker wurde. Und jetzt, nach Saint Huberts Ankunft, erreichte sie offenbar ihren Höhepunkt.
Was in ihm vorging, verstand er nicht. Noch nie hatte er seine flüchtigen Launen hinterfragt oder darüber nachgedacht und sich immer genommen, was er haben wollte. Nichts war ihm jemals verweigert worden, sein Reichtum erfüllte alle seine Wünsche. Schon in der Kindheit hatte er sein leidenschaftliches Temperament besessen. Doch diese sonderbaren Anfälle unerklärlicher Gereiztheit waren neu. Vergeblich suchte er nach der Ursache.
Seine scharfen Augen durchdrangen das Dunkel im Süden, Beunruhigte ihn die Nähe des Erbfeindes, der sich näher an
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