Der Scheich
ist der Sohn eines englischen Aristokraten. Seine Mutter war eine adelige Spanierin. In ihren Adern floß wie in vielen alten spanischen Familien maurisches Blut. Auch das typische Äußere hat sich über die Jahrhunderte vererbt. Und da Ahmed schon so lange in der Wüste lebt, wurde seine Haut noch dunkler. Hat er seine Herkunft nie erwähnt?»
Sie schüttelte den Kopf. «Manchmal habe ich mich gewundert ...» begann sie nachdenklich. «Er schien sich von den anderen Arabern zu unterscheiden, und ich konnte so viele Dinge nicht begreifen. Und es gab Augenblicke, in denen er mir durch und durch arabisch vorkam», fügte sie etwas leiser hinzu und erschauderte unwillkürlich.
«Nun sollen Sie die Wahrheit erfahren... Ja, darauf haben Sie ein Recht», fuhr er entschieden fort, obwohl sie ihn zu unterbrechen suchte. «Was ich Ihnen mitteilen will, wird vieles erklären, und ich übernehme die Verantwortung. Sein Vater ist der Earl von Glencaryll.»
«Oh, ich kenne ihn!» rief sie verblüfft aus. «Er war mit meinem Vater befreundet. Erst vor wenigen Monaten sah ich ihn wieder, als ich mit Aubrey in Paris Station machte. Ein stattlicher alter Herr - so voller Zorn und Trauer. Jetzt weiß ich, warum mir Ahmeds schreckliches Stirnrunzeln so vertraut erschien. Die Carylls sind berühmt dafür! Aber - ich verstehe noch immer nicht...» Sie betrachtete den Bewußtlosen, dann sah sie wieder den Vicomte an, und eine neue Sorge trat in ihre Augen.
«Am besten erzähle ich Ihnen die ganze Geschichte.» Saint Hubert lehnte sich in seinem Sessel zurück. «Vor sechsunddreißig Jahren besuchte mein Vater, ebenso reiselustig wie ich, seinen Freund hier in der Wüste - Scheich Ahmed Ben Hassan. Eine Zufallsbekanntschaft, wenige Jahre zuvor beim Kauf einiger Pferde entstanden, hatte sich zu einer tiefen, zwischen einem Franzosen und einem Araber ungewöhnlichen Freundschaft entwickelt. Und der Scheich war ein großartiger Mann, sehr gebildet, mit europäischen Neigungen. Wenn ihm die Art und Weise auch mißfiel, wie die Franzosen Algerien regierten - er persönlich wurde nicht davon betroffen, und so gab es keine Probleme. Das Gebiet, das er als sein eigenes betrachtete, lag zu weit im Süden, und er regierte seinen weitverstreuten Stamm mit strenger Hand, so daß er keine Einmischung der Behörden heraufbeschwor. Da ihn die Araberinnen nicht zu interessieren schienen, heiratete er nicht, und er lebte nur für seine Leute und seine Pferde. Mein Vater blieb mehrere Monate bei ihm. Kurz zuvor war meine Mutter gestorben, und er wollte schmerzlichen Erinnerungen entfliehen. Eines Abends, kurz nach seiner Ankunft im Lager, kehrte eine Truppe des Scheichs zurück, nachdem sie im Norden einige Geschäfte erledigt hatte, und brachte eine Frau mit, die in der Wüste umhergeirrt war. Wie sie dorthin gelangt und woher sie gekommen war, wußten die Männer nicht. Sie hatten die Frau zwar in der Nähe einer europäischen Ansiedlung aufgegriffen, entzogen sich aber wie die meisten Orientalen der Verantwortung und überließen es dem Scheich, über das Schicksal der Fremden zu entscheiden. Sie konnte keine Erklärung abgeben, da sie - unter dem Einfluß der sengenden Sonne oder aus anderen Gründen - vorübergehend von Sinnen war. Mit Verrückten gehen die Araber sehr sanft um. ‹Allah hat sie berührt», pflegen sie zu sagen.
Und so wurde die Fremde im Zelt eines untergeordneten Scheichs einquartiert, dessen Gattin sie betreute. Eine Zeitlang war es fraglich, ob sie sich erholen würde. Außerdem erwartete sie ein Kind, was ihren Zustand noch verschlechterte. Nach einigen Tagen kam sie wieder zu sich, verriet jedoch weder, wer sie war, noch, woher sie stammte. Wenn man ihr Fragen stellte, bekam sie hysterische Weinkrämpfe, die ihrer Gesundheit schadeten. Doch sie beruhigte sich, sobald man sie in Ruhe ließ. Selbst dann zuckte sie beim leisesten Geräusch zusammen, und die Frau des Anführers berichtete, die werdende Mutter läge stundenlang weinend auf ihrem Bett. Sie war noch jung, höchstens neunzehn oder zwanzig. Ihrem Akzent entnahm mein Vater, daß sie Spanierin war. Allerdings gab sie keine Auskunft, nicht einmal über ihre Nationalität. Schließlich gebar sie das Kind, einen Jungen.»
Saint Hubert machte eine Pause und wies mit dem Kinn auf seinen Freund. «Auch nach der Geburt bewahrte sie ihr Geheimnis. Nichts konnte ihr Schweigen brechen - sie blieb unnachgiebig. In allen anderen Dingen war sie sanft und freundlich, ein zartes kleines
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