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Der Scherbensammler

Der Scherbensammler

Titel: Der Scherbensammler
Autoren: Monika Feth
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gewählt.
    Minas Mutter musste auf einen Anruf gewartet haben, denn sie meldete sich bereits nach dem ersten Klingeln mit atemloser Stimme.
    »Hallo?«
    »Tilo Baumgart. Guten Morgen, Frau Kronmeyer.«
    »Ja?«
    Er konnte spüren, wie enttäuscht sie war. Auf was hatte sie gehofft? Auf wen? Erwartete sie immer noch bei jedem Klingeln, es wäre Mina, die aus heiterem Himmel Versöhnung suchte?
    Tilo hatte sich vorgenommen, sehr vorsichtig vorzugehen, um Frau Kronmeyer nicht unnötig aufzuregen. Auf einmal war er nicht mehr sicher, ob es eine gute Idee gewesen war, sie anzurufen.
    »Ich wollte mich erkundigen, ob Sie Nachricht von Mina haben«, sagte er.
    »Nein.«
    Ihre Stimme klang reserviert. Wahrscheinlich machte sie die Therapie dafür verantwortlich, dass sie ihre Tochter verloren hatte.
    »Ich möchte Ihnen auch noch mein Beileid zum Tod Ihres Mannes aussprechen.«
    »Danke.«
    Sie kam ihm in keiner Weise entgegen, und Tilo musste daran denken, dass Minas Grundgefühl ihrer Mutter gegenüber immer eine tiefe Verlorenheit gewesen war. Jetzt konnte er das nachvollziehen. Er war nicht einmal überrascht, als er das Klicken hörte, mit dem sie das Gespräch beendete.
    »Mit wem hast du telefoniert?«
    Imke drehte sich nicht nach ihm um, als er ihr Zimmer betrat.
    »Mit Minas Mutter.«
    »Ah ja.«
    »Ich wollte wissen, ob Mina vielleicht …«
    »Aber sie hat sich nicht bei ihr gemeldet, nicht wahr?«
    »Nein.«
    »Ist es nicht seltsam?« Imke hielt den Blick starr nach draußen gerichtet. »Seit ein paar Tagen habe ich meinen Bussard nicht gesehen. Und plötzlich verlieren drei Mütter ihre Töchter.«
    »Nun übertreib doch nicht.«
    Tilo suchte nach den richtigen Worten. Er fand sie nicht. Es wäre auch sinnlos gewesen. Imke hörte ihm nicht mehr zu.
     
    Merle beobachtete, wie Ben krampfhaft versuchte, wach zu bleiben. Seine Lider waren so schwer, dass er die Augen kaum noch richtig öffnen konnte. Er lehnte an der Wand und schlief beinahe im Stehen.
    Gut, dachte Merle. Wir brauchen nur zu warten.
    Doch sie wusste auch, dass einem die Dinge normalerweise nicht in den Schoß fielen. Es wäre nicht schlecht, einen Plan zu entwickeln. Bei der Arbeit für den Tierschutz fiel ihr das leicht. Da war sie dafür bekannt, dass sie aus jeder Zwickmühle einen Ausweg fand. Aber hier?
    Auf Jette konnte sie sich verlassen. Bei Mina sah das anders  aus. Ihr hatten sie es zu verdanken, dass sie in der Falle saßen. Hätte sie das mit dem Ferienhaus nicht ausgeplaudert, wäre Ben nie auf den Einfall gekommen, sie zu verschleppen.
    Was hätte er stattdessen getan?
    Er hätte uns umgebracht, dachte Merle mit einer Klarheit, die sie selbst überraschte.
    Das Messer steckte griffbereit in seiner Hosentasche. Dabei brauchte er es gar nicht, um sie in Schach zu halten. Der Gedanke an das Perlhuhn war Abschreckung genug.
    »Bring mir noch einen Kaffee«, sagte Ben zu Mina.
    Mina stand gehorsam auf und ging in die Küche. Dass der Kochbereich nur durch eine Theke vom Wohnraum abgetrennt war, erleichterte Ben die Kontrolle. Er konnte jede von ihnen zu jeder Zeit im Auge behalten.
    Merle hatte die Tassen Kaffee nicht gezählt, die Ben schon in sich hineingeschüttet hatte. Bis jetzt hatte das Koffein gute Dienste geleistet, doch allmählich siegte die Müdigkeit. Bens Gesicht war blass. Er schwitzte stark und seine Augen waren rot umrändert. Nicht mehr lange, und er würde brechen.
    Wir brauchen nur zu warten, machte Merle sich Mut. Irgendwann wird ihn der Schlaf übermannen und dann schlagen wir zu.
    Sie unterdrückte ein Gähnen. Niemand sollte bemerken, wie müde sie selber war. Beim Pokern und beim Schach durfte man keine Schwäche zeigen. Erst recht nicht bei dem Spiel, das Ben mit ihnen spielte.
    Schlaf ein, dachte sie. Schlaf endlich ein.
     
    Das Tierheim war eine Ansammlung flacher, schmuckloser Betonbauten. Auf den unbefestigten Wegen, die an den grauen Gebäuden entlangführten, standen vom letzten Regen noch  Pfützen. Eine einzige Schlechtwetterwoche, und man würde hier im Schlamm waten. Hunde aller Farben, Rassen und Größen sprangen an den Maschendrahtzäunen der Außengehege hoch und empfingen Bert mit hysterischem Gebell.
    Das zweite Heim an diesem Tag, das wurde Bert plötzlich bewusst. Die Vielzahl solcher Institutionen war typisch für eine Gesellschaft, die sich hilfsbedürftiger Menschen und Tiere gern elegant entledigte. Es gab Heime für Alte und Heime für Kinder, Heime für psychisch Kranke und Heime für
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