Der Schimmer des Ledger Kale
ohrenbetäubenden Explosion berstenden Glases ein. Metalldeckel rollten herum wie riesige Münzen, während Polkamusik, Country-Balladen, Baseballspiele und Liebeslieder in der Luft zusammenstießen und ein Getöse machten wie eine vom Steinschlag getroffene Radio-Fabrik.
Dann stürzte die ganze Scheune ein.
Als sich der erste schwere Balken, nachdem Nägel und Bolzen herausgesprungen waren, ruckartig aus seiner Verankerung löste und zu Boden krachte, ging das Fest im Chaos unter. Leute schrien. Bitsy bellte. Die Zwillinge ließen eilig Opa Bomba in seinem Polstersessel nach draußen schweben. Opa hielt sich fest und stieß ein schwaches »Hu–ah!« aus, als die Flügel des Scheunentors genau im Moment seines Hindurchfliegens aus den Angeln krachten.
Mom und Dad versuchten mich von den herabfallenden Trümmern wegzuziehen, während andere Gäste mich am Ärmel zupften oder an meinem Kragen herumzerrten. Doch ich saß weiter in der Hocke und konnte mich nicht rühren. Ich war ein Amboss: gehärteter Stahl, nicht vom Fleck zu bewegen. Beschwert vom Druck der Ereignisse, die um mich herum geschahen.
Die Erkenntnis, dass ich also doch einen mächtigen Schimmer hatte, traf mich wie ein Hammerschlag. Nicht nur Uhren und Scheibenwischer mussten sich vor mir in Acht nehmen. Nein, die ganze weite Welt.
7
»Nein, nein, nein, nein!«, flüsterte ich, während mein Schimmer weiter die Scheune einriss. Mom und Dad – und sogar Fedora – blieben bei mir stehen. Ich spürte, dass alle anderen zwischen mir und dem krachend und klirrend kollabierenden Gebäude hin und her sahen. Und ich hörte die Leute miteinander tuscheln, als der Geruch von Sägespänen die Luft erfüllte.
»Hör auf, Ledge! Stopp!«, sagte Mom immer wieder. Aber Worte allein konnten mich nicht aufhalten, und ein Lächeln wollte ihr einfach nicht gelingen. Ich hielt den Kopf gesenkt und gab mir alle Mühe aufzuhören, doch ich hatte keine Ahnung, wie.
»Ledger, schau mich an!«, sagte Dad wieder und wieder. »Hol einfach tief Luft und schau mich an.« Aber ich konnte Dad nicht in die Augen sehen – nicht während ich alles um mich herum zerstörte. Ich wusste, dass ich ihn in jeder Hinsicht enttäuschte. Mit dem Halbmarathon war es jetzt wohl endgültig vorbei. Ein falscher Schritt, und ich würde die Tische mit den Wasserbechern umkippen oder die Leitplanken demontieren. Ich würde die Marathon-Uhren in kleinste Einzelteile zerlegen. Oder schlimmer noch: die Schrauben in den Dixiklos lockern und die übelriechendste Überschwemmung aller Zeiten herbeiführen.
Ich hörte einen lauten Knall und schaute gerade noch rechtzeitig hoch, um zu sehen, wie zwei dicke Kabel bitzelnd und zuckend wie Zitteraale in den trockenen Garten stürzten.
»Passt auf! Die Stromkabel!«, rief jemand. »Haltet euch davon fern!«
»Ihr möchtet doch bestimmt, dass ich mir dazu etwas einfallen lasse, hab ich Recht?«, hörte ich Rocket sagen.
»Wenn du wohl so nett wärst«, antwortete Autry knapp, während er die Kinder und alten Leute weiter von dem wachsenden Trümmerhaufen wegtrieb.
»Herzlichen Glückwunsch nachträglich zum Geburtstag, Ledge!«, knurrte Rocket, als er sich an mir vorbei vorsichtig einen Weg zu den herabgestürzten Kabeln bahnte.
»Rocket!«, rief Fe, worauf er sich umdrehte. »Achte auf deine Sicherheit! Alles andere hat Zeit!«
»Keine Sorge, Kleine!«, rief er, während die Blitze aus den kaputten Leitungen sein Lächeln erleuchteten. »Aber versuch bloß nicht, das zu Hause nachzumachen!« Als Rockets Blick wieder mich streifte, verschwand sein Lächeln und er sah mich so scharf an, dass mir der Atem stockte.
Rocket betrat den Garten und blieb an der Stelle stehen, wo zwischen den Radieschen die Kabel zuckten und zappelten und die Luft mit tödlicher Spannung aufluden. Atemlos sah ich meinem Cousin dabei zu, wie er die Stromkabel vom Boden aufhob, als wären es harmlose grüne Gartenschläuche. Dann hielt er die beiden Funken sprühenden Enden aneinander, schloss seine Hand darum und drückte fest zu. Strom schoss seinen Arm hinauf und umtanzte seinen Hals und seine Brust.
Nachdem er den Kabeln auf diese Weise den Strom entzogen hatte, kam Rocket wieder auf mich zu. Knisternd und leuchtend blieb er ungefähr drei Meter vor mir stehen. Ich hoffte, dass dies ein ausreichender Sicherheitsabstand zwischen einem elektrisch aufgeladenen Mann und einem alles demolierenden Jungen war. Rockets Schultern hoben und senkten sich bei jedem Atemzug. Die
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