Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition)
Familiensituation. Alles, was mir helfen kann …«
Schweigen.
»Wobei helfen?«
»Herauszufinden, warum er meine Frau gekidnappt hat und wohin er sie bringt.«
5.
Autobahn, 22.09 Uhr
Schmerzen im Daumen. Schmerzen, die über ihr Handgelenk in den Unterarm bis zum Ellenbogen ausstrahlten. Und ein klebri ges Gefühl zwischen den Fingern. Blut? Von ihren verletzten Hän den? Was ging hier eigentlich vor?, fragte Hannah sich. Warum halten wir hier?
Stimmen. Männerstimmen. Er redete mit jemandem. Noch einmal ließ sie ihre zusammengebundenen, gefalteten Hände so fest auf den Boden sausen, wie sie nur konnte. Sie schlug, ohne etwas zu sehen, in die einzig mögliche Richtung. Das dumpfe Klopfen war aber bei Weitem nicht so laut, wie sie gehofft hatte, und konnte nicht mit dem Radio konkurrieren. Die Schmerzen kamen sofort, und es floss auch wieder Blut. Am Boden des Kartons war ein Loch, und ihre Hände schlugen gegen etwas Hartes. Die Haut über den Knöcheln ihrer Daumen war aufgeplatzt, zwei klaffende Wunden. Sie wartete einen Augenblick, aber es geschah nichts. Sie war nicht gehört worden. Dann versuchte sie zu schreien. Drückte ihre Zunge gegen das Tape, um es etwas zu lösen. Und auf einmal schienen ihre Bemühungen auch von Erfolg gekrönt zu sein. Vielleicht konnte sie es tatsächlich schaffen, dieses Klebeband loszuwerden.
Wieder hörte sie die Stimmen:
»Dieser Umzug, das war wirklich anstrengend . Ist das ein Problem?«
Andere Stimmen antworteten, sie konnte die einzelnen Wörter aber nicht unterscheiden.
Der Kleber des Tapes schmeckte nach Chemie. Ein Geschmack, der sich mit dem Geschmack ihres Blutes mischte. Hatte sie sich auf die Zunge gebissen?
»Ich war vollkommen in Gedanken . «
Hannah drückte ihre Zunge durch ein kleines Loch an der Oberlippe, vergrößerte es und presste das Tape weiter nach unten. Jetzt war Platz. Endlich. Jetzt ging es, dachte sie und stieß einen lauten Schrei aus. Das war jedenfalls ihr Plan gewesen, doch das meiste wurde vom Tape verschluckt. Der Platz reichte noch immer nicht. Sie kämpfte weiter. Der Spalt war jetzt größer, vielleicht konnte sie diesmal lauter schreien. Noch einmal hämmerte sie mit den Knöcheln auf den Boden, dieses Mal so fest, dass ein Knacken durch ihren Daumen ging, gefolgt von einem stechen den Schmerz. Hatte sie sich den Finger gebrochen oder ausge kugelt?
»Dann noch einen schönen Abend . «
Das Tape war jetzt fast weg. Auf jeden Fall konnte sie einen Laut ausstoßen, der an einen Schrei erinnerte.
»Wiedersehen . «
Aber der Schrei kam zu spät – bloß ein paar Sekunden – und er trank im Brummen des Motors, der angelassen wurde. Dann fuhr das Auto los.
6.
Autobahn, 22.13 Uhr
Tränen in den Augen. Plötzlich waren sie da und rollten ihm über die Wangen. Es war zum einen sicher die Erleichterung, nicht entdeckt worden zu sein. Er weinte aber auch um seine Tochter und um sich, für die Gerechtigkeit und um all das, was er verloren hatte. Er weinte, weil er allein war. Niemand konnte ihm helfen, niemand konnte ihn verstehen, niemand wusste, welche Schmerzen in seinem Körper brannten, verursacht von all dem, was er zerstört hatte, der Mann, der Maria ermordet und ihm und Silke alles genommen hatte. Das bringt sie doch nicht wieder zurück . Er hörte noch immer die tröstenden Worte des Psychologen, als es sich abzeichnete, dass der Mörder nicht gefunden werden würde. Sinnlose Worte, Worte, die mit ihrer grenzenlosen Leere alles nur noch schlimmer machten. Denn natürlich war das ein Unterschied. Nicht die eigentliche Strafe, die war egal, aber durch einen Täter, durch einen Schuldigen, wurde sein Schmerz konkret. Erst dann hatte der Schmerz ein Gesicht, einen Namen. Und nur so konnte er Silke aus dem Gefängnis holen, in dem sie sich verbarrikadiert hatte.
Wann hatten die Tränen zu fließen begonnen?, fragte Bergmann sich. Als die Polizisten weg waren? Oder schon als er am Bahnübergang hatte warten müssen und an ihre Italienreise gedacht hatte. Pisa, Florenz, Rom, Neapel. Unerträgliche Hitze in kleinen, lärmenden Bummelzügen. Auf dieser Reise hatten sie Silke gezeugt. Vermutlich in einer Pension in Florenz mit Aussicht auf die Domkirche Santa Maria del Fiore. Die Augen seiner Frau an jenem Abend, ihr Blick, der ihn zum ersten Mal überzeugt hatte, dass sie ihn wirklich liebte. Anschließend hatten sie nebeneinandergelegen und den Atem des anderen eingeatmet, dem Läuten der Kirchenglocken gelauscht, den Stimmen
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