Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition)
Füße kribbelten, vielleicht weil das Blut jetzt wieder richtig pulsierte, vielleicht aber auch wegen der Mittel, die er ihr gespritzt hatte. Sie versuchte, ein paar Schritte zu machen, verlor aber das Gleichgewicht und stürzte nach vorn. Eine weiche Landung. Wald boden. Moos. Blätter. Blumen. Kleine Zweige. Was für ein Wald? Wo war sie?
Jäger . Zug . Norden .
Ein weit entferntes Tuten. Eine Fähre? Vermutlich. Ja, das konn te gut sein. Die Binde vor ihren Augen war nach unten gerutscht. Sie lag auf dem Rücken im Wald. Eine unangenehme Stellung. Abendhimmel. Sie sah, wie es über den Baumkronen langsam dun kel wurde. Jetzt kam es darauf an. Wenn ihre Augen nur fündig wurden …
Er war ein paar Meter von Hannah entfernt. Es hörte sich so an, als suchte er etwas im Auto. Aber was? Etwas, womit er sie umbringen oder quälen wollte? Es würde bestimmt nur einen Augenblick dauern, bis er zurück war, sie wieder auf die Beine zog und weiterschleppte …
Mondfinsternis . Das war jetzt. Wie gern hätte sie diesen Augenblick mit Niels geteilt. Der Mond lag jetzt fast vollständig im Schatten der Erde. Das hieß, dass es ungefähr 22.12 Uhr sein musste. Wann war sie betäubt worden?, fragte sie sich. Wie lange dauerte dieser Albtraum schon? Eine halbe Stunde möglicherweise. Allenfalls ein bisschen mehr. Wie weit fuhr man in gut 30 Minuten? Er war schnell gefahren. Und einen großen Teil hatten sie auf der Autobahn zurückgelegt. Aber sie waren auch angehalten worden, und der Fahrer hatte mit jemandem geredet. Wie lange hatte das gedauert? Fünf Minuten? Etwas weniger? Außerdem hatten sie an einer Stelle ziemlich lange auf einen Zug gewartet. Also: Sie waren vielleicht eine halbe Stunde gefahren, davon 20 bis 22 Minuten auf der Auto bahn mit ungefähr 120 Stundenkilometern. Alles in allem machte das vielleicht 40 Kilometer. Eventuell ein bisschen mehr. Vielleicht 45? Ganz falsch konnte sie damit nicht liegen. Ja, sie musste sich etwa 40 Kilometer von Kopenhagen entfernt befinden. Und er hatte die DTU als Richtung er wähnt. Also waren sie nach Norden gefahren. 50 Kilometer nach Norden. Vermutlich an der Küste entlang. Oder konnte er auch Richtung Westen gefahren sein? Nein, sie hatte erst vor Kurzem eine Fähre gehört. Sie waren also sicher an der Küste. Das musste stimmen. Welche Fähre? Die zwischen Helsingør und Helsingborg? Auf dem Roskildefjord verkehrten nicht viele Fähren, außerdem lag das nicht Richtung DTU . Und in einer halben Stunde konnten sie es unmöglich bis an die Mündung des Roskildefjords geschafft haben. Ein Licht am Himmel. Jetzt sah sie es. Wie das Licht eines Science-Fiction-Raumschiffs. Würdevoll, majestätisch, in seiner gleitenden, monotonen Bewegung fast elegant. Sie kannte dieses Licht. Die ISS . Die internationale Raumstation wurde 1998 in einem Abstand von nur 400 Kilometern in die Umlaufbahn der Erde geschossen. Bald hatte sie den höchsten Punkt ihrer halbkreisförmigen Bahn erreicht. 26 Grad über dem Horizont. Das war ihr Maximum. Dann war es nicht 22.12 Uhr, sondern etwas später. Ver mutlich 22.20 Uhr. Oder … das hieß dann aber auch, dass sie ein bisschen weiter gefahren waren. Schritte . Ein Zweig brach kurz hinter ihr. Nein, sie wollte keine wertvollen Sekunden vergeuden, nur um zu sehen, wie weit hinter ihr er war. Sicher nicht mehr als ein paar Meter. Denk nach, dachte sie. Das ist doch Schulstoff, kinderleicht. Wie viele Vollmonde pas sen zwischen den Mond und den Horizont? Die Anzahl der Monddurchmesser über dem Horizont? Einer? Anderthalb vielleicht? Nein, nur einer, dachte sie. Und die schein bare Größe des Mondes entsprach in etwa 32 Bogenminuten, also einem halben Grad. In Kopenhagen stand der Mond exakt anderthalb Durchmesser über dem Horizont. Deshalb musste sie …
Dann stand er da und zog sie auf die Füße. Nicht brutal, aber mit Kraft.
»Kommen Sie, Sie müssen …«
… sich genau einen halben Grad nördlich von Kopenhagen befinden, sagte Hannah zu sich selbst. Ja, so musste es sein. Einen halben Grad. Kopenhagen lag auf dem Breitengrad 55,41. Sie war einen halben Grad weiter nördlich, also …
»Können Sie allein gehen?«, fragte er und schob die Augenbinde wieder richtig über ihre Augen.
9.
Sølvgade, 22.20 Uhr
Niels sah sich um. Der Alarm hatte aufgehört. Es würde nicht lange dauern, dann standen vermutlich ein oder zwei Wachmänner vor ihm. Wenn der Alarm überhaupt mit einer Zentrale verbunden war. Die meisten waren bloß lokale
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