Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition)
ist ganz natürlich, aber hier bei uns ist Neid nicht unbedingt etwas Schlechtes. Vielleicht ist es gerade der Neid, der einen beim nächsten Mal anspornt, noch mehr zu geben.«
Sommersted faltete lächelnd die Hände. Schweigen. Der Ballettmeister sah verwirrt zu seinem Chef, der seinen Blick abgewandt hatte. Er hatte soeben das Königliche Theater als kranke Sekte dargestellt, dessen größter Star jetzt in den Tod getrieben worden war.
»Hat sie jemals gesagt, dass sie sich verfolgt fühlt?«
»Nie«, erwiderte der Ballettmeister.
Niels ergriff rasch das Wort: »Sagt Ihnen das Wort ›Echelon‹ etwas?«
»Echelon?«
»Ja, das war das Letzte, was sie gesagt hat.«
Der Ballettmeister zuckte mit den Schultern und sah seinen Chef an. Noch ehe sie sich auf ein »wir haben keine Ahnung« verständigen konnten, fuhr Sommersted fort:
»Kann sie an Selbstmord gedacht haben?«
»Das ist ausgeschlossen.«
»Wirklich ausgeschlossen?«
»Ja, ich kannte sie ziemlich gut.«
»Sie sagen, Sie kannten sie ziemlich gut, wollen aber nichts über die Narbe an ihrer Schläfe wissen?«, fragte Niels. »Und über ihren Drogenmissbrauch? Über ihre anderen Probleme?«
Der Ballettmeister räusperte sich. »Giselle war ihre Traumrolle. Wenn ich an Dicte denke, fallen mir erst einmal Worte wie seriös und professionell ein. Ich verletze sicher niemanden, wenn ich sage, dass Dicte zu den drei besten Tänzern des Ensembles gehörte. Zu den Top Ten in Europa. Sie watete förmlich in Angeboten aus New York und vom Bolschoi-Theater.« Er breitete die Arme aus: »Karrieremäßig befand sie sich an einem Punkt, von dem Millionen von Mädchen auf der ganzen Welt nicht einmal zu träumen wagen. Dabei ging es immer noch weiter bergauf. Die Welt lag ihr zu Füßen. Warum sollte sie da Selbstmordgedanken haben?«
»Es gibt anderes im Leben als die Karriere«, konstatierte Niels.
»Nicht für eine Solotänzerin.«
»Vielleicht ist gerade das das Problem?« Niels fing seinen Blick ein.
»Sind wir bald fertig? Ich habe am Freitag eine Premiere.«
»Sagen Ihnen die Buchstaben NMSB etwas?«
Sie sahen einander an.
»Dicte hatte sie sich in die Hand geschrieben«, sagte Niels und wiederholte sie noch einmal langsam:
» NMSB , eine Verabredung, die sie heute gehabt hätte. Um 16 Uhr.«
»Das sagt mir nichts. Aber 16 Uhr würde passen. Das ist mitten in der Pause vor der Abendprobe«, sagte der Ballettmeister.
Niels versuchte es ein letztes Mal: » NMSB . Vielleicht ist das ein Name? Ein Therapeut? Ein Arzt? Ein Liebhaber? Ein Kollege mit vier Namen? Ein Ort?«
Sommersted räusperte sich. »Wir machen Folgendes: Niels bleibt ein paar Tage hier.« Er wandte sich an Niels. »Bentzon versteht sich darauf, mit Menschen zu reden. Er ist auch so etwas wie ein Solotänzer.«
Ein seltenes Lächeln huschte über Sommersteds Lippen.
Der Ballettmeister reagierte als Erster: »Ist das wirklich notwendig?«
Auch der Direktor schien nicht gerade begeistert über die Vorstellung zu sein, einen Polizisten mehrere Tage lang im Haus zu haben. »Riskieren wir es da nicht, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen? Wir haben Ihnen doch gerade gesagt, dass sie sich nicht irgendwie ungewöhnlich verhalten hat.«
»Ungewöhnlich!«, sagte Niels und erhob die Stimme. »Ich weiß nicht, was an diesem Ort gewöhnlich ist. Aber wenn es normal ist, dass Ihre Tänzerinnen verschwinden, ersäuft und dann wiederbelebt werden, vielleicht sogar noch mit dem theatereigenen Defibrillator, bevor sie dann in den Tod springen, möchte ich wirklich nicht hier arbeiten.«
Schweigen.
»Es gibt natürlich auch eine Alternative.« Sommersted entließ den Theaterdirektor nicht aus seinem Blick.
»Und die wäre?« Ein Funken Hoffnung schien in den Augen des Mannes zu zünden.
»Eine denkbar einfache Alternative: Alle Angestellten des Kö niglichen Theaters kommen der Reihe nach zum Verhör aufs Präsidium. Einer nach dem anderen. Tänzer, Kantinenpersonal, Schauspieler, Reinigungspersonal, Ballettmeister, Direktor.«
***
Aufbruch. Sommersted wechselte leise ein paar Worte mit dem Direktor. Der Ballettmeister kam aus dem Vorzimmer zurück und sagte:
»Können wir unsere Pressemitteilungen über diese Tragödie koordinieren?«
Sommersted sah ihn verständnislos an.
»Sie haben doch wohl auch einen PR -Mitarbeiter bei der Polizei? Nur damit die Presse mit ihren Schlagzeilen nicht vollkommen Amok läuft«, sagte er, bemerkte dann aber, dass er sein Ziel verfehlt hatte.
Weitere Kostenlose Bücher