Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition)
Sommersted warf sich den blauen Blazer über den Arm, drehte sich in der Tür noch einmal um und sagte: »Ich schlage vor, dass Sie damit beginnen, Ihre Leute zusammenzu trommeln, damit Bentzon sich vorstellen kann.«
27.
Bispebjerg-Klinik – Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie, 13.20 Uhr
Wie konnte sich der Schuldige in all den Jahren vor der Polizei verbergen? Ich habe beinahe aufgehört, mir diese Frage zu stellen. Ich könnte daran verzweifeln. Technische Beweise gab es zuhauf. Fingerabdrücke, Sperma, DNA . Sie hatten viel mehr als meine sparsame Beschreibung, überdies hatte einer der Nachbarn gesehen, wie er sich aus dem Haus geschlichen hat und weg gefahren ist. Sollten das nicht Spuren genug sein? Sie haben über all gesucht, ihn aber nirgendwo gefunden. Das läuft nur selten so, die meisten Morde werden aufgeklärt.
Ich sitze wieder unten im Park. Es ist fast zu warm. Ein Teenager hat gerade hinter einen Baum gekotzt. Ein paar Jungs spielen Fußball, die Tore haben sie mit ihren Kleidern gemacht, die sie einfach auf die Wiese gelegt haben. Einer von ihnen ruft, er sei Messi. Ich weiß nicht, wer Messi ist. Ich weiß nicht, wer wer ist, nicht einmal, wer ich selbst bin. Manchmal stehe ich nachts auf und betrachte mich im Spiegel. Stehe im Dunkeln und frage mich: Wer bist du, Silke? Aber eine Antwort kriege ich nie. Ich halte mein Gesicht direkt vor den Spiegel, bis meine Nase das kalte Glas berührt, und starre mir selbst in die Augen, aber jedes Mal aufs Neue habe ich das Gefühl, einer Fremden gegenüberzustehen, und dieses Gefühl entsetzt mich. Vielleicht ist das so, weil ich nicht rede. Die Stille erschafft neue Stimmen im Kopf. Weil ich keine der Stimmen herauslasse.
»Hast du auch an Sonnencreme gedacht, Silke?«, ruft mir eine der Schwestern zu und kommt zu mir herüber. »Vielleicht solltest du dich lieber in den Schatten setzen.«
Sie setzt sich neben mich auf die Bank. Spricht zu mir, als würden wir uns schon Ewigkeiten kennen.
»Wie hältst du das nur aus?«, fragt sie lächelnd. »Es sind beinahe fünfundzwanzig Grad.«
Sie ist eine der Neuen. Jung und engagiert. Ich kann sie gut leiden. Besonders ihre Augen, wenn sie mich ansieht. Ohne Mit leid. Sie können nichts Schlimmeres tun, als mich mit einem Blick voller Mitgefühl ansehen. Denn so empfinden sie das nicht. Allenfalls weil ich meine Mutter auf eine derart brutale Weise verloren habe, aber das ist ja lange her, und jetzt kommt es darauf an, das alles hinter mir zu lassen. Das sind die Dinge, die ihnen durch den Kopf gehen, und das ist auch gut so.
»Darf ich für einen Moment deine Hand halten, Silke?«, fragt die Schwester.
Sie nimmt meine Hand. Nur einen Augenblick, es ist zu warm für Körperkontakt, aber lange genug, damit ich spüre, wie mir die Tränen in die Augen steigen. So ist das immer. Kommt mir jemand zu nahe, beginne ich zu weinen.
»Dieser Polizist hat eben angerufen«, sagt sie. »Ist es okay, wenn er dich besuchen kommt?«
Ich wünschte mir, sie würde gehen. Denn langsam hat das Bild in meinem Inneren Gestalt angenommen. Wie fast jeden Tag um diese Zeit, egal was ich unternehme, damit es nicht so ist. So muss es sein, unter Tinnitus zu leiden, denke ich oft. Nur mit dem Unterschied, dass ich kein lautes Rauschen höre, sondern das immer gleiche Bild vor meinem inneren Auge sehe. Visueller Tinnitus nenne ich das für mich. Ein stundenlanger Prozess, bei dem alles um mich herum verwischt und durch das Bild meiner toten Mut ter auf dem Küchenboden ersetzt wird. Ihr Gesicht. Der starre, verwunderte Blick, der zu fragen schien: Warum ich? Warum musste ich umgebracht werden? Die glatte weiße Haut. Das Blut, das sich wie ein Kranz um ihren Kopf gelegt hatte und irgendwie nicht wie richtiges Blut aussah, jedenfalls nicht so, wie ich mir eine große Menge Blut vorstellte. Vielleicht war mir die Farbe eine Spur zu dunkel oder die Substanz zu dickflüssig.
»Okay, Silke. Dann gehe ich hoch und rufe den Kommissar an.«
Wer hat das getan? Wer ist der Schuldige ?
»Und sage ihm, dass er gerne kommen kann. Meinst du nicht, dass es besser ist, wenn du wieder reinkommst?«
28.
Das Königliche Theater, 13.35 Uhr
»Ja, aber die sind jetzt alle auf dem Weg in den großen Saal.« Ida sah Niels vorwurfsvoll an.
»Es dauert nicht lang. Ich will nur kurz einen Blick in ihr Zimmer werfen.«
»Sie meinen Dictes Garderobe?«
»Nur zwei Minuten.«
Sie eilten über den Flur. Sommersted folgte ihnen, er redete noch
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