Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition)
immer mit dem Direktor.
»Sie machen das dann hier, Bentzon«, rief er und gab ihm per Handzeichen zu verstehen, dass er ihn anrufen sollte, bevor er um eine Ecke verschwand.
»Es ist gleich hier.« Ida warf einen Blick auf ihre Uhr und beschleunigte ihren Schritt.
Sie brauchte ihm nicht zu sagen, wo es war. Der Bereich vor ihrer Tür sah aus wie der Schauplatz eines Autounfalls am Tag danach. Blumen, Briefe, Grüße an die Tote. Ein Mädchen legte mit rot geweinten Augen einen Blumenstrauß nieder.
»Haben alle Tänzer ihre eigene Garderobe?«, fragte Niels.
»Nur die Solotänzer. Und die Gäste.«
»Gäste?«
»Aus dem Ausland. Die nur eine Vorstellung tanzen und dann wieder abreisen.«
»Und die anderen? Sind die fest angestellt?«
»Klar, sonst hätte man ja kein Ensemble«, antwortete sie beinahe beleidigt, als wollte Niels dem Königlichen Theater dieses Privileg entziehen.
»Wir lieben dich« und »Liebste Freundin, gute Reise«. Niels musste einen großen Schritt über die Karten und Blumen machen, um die Tür zu erreichen.
»Wir sollten uns wirklich beeilen«, sagte Ida gestresst und öffnete die Tür. »Die anderen warten unten auf uns.«
»Sie können mich in fünf Minuten abholen«, befahl Niels.
Niels betrat den Raum und drückte die Tür hinter sich zu, aber sie fiel nicht ins Schloss. Er drehte den Türgriff, und das Schloss klickte hörbar und wenig harmonisch. Neben dem Schloss wa ren kaum sichtbare Kratzer in der Farbe. Stammten die von einem Schraubenzieher? Einem Messer? Auf dem Boden lagen drei schmale frische Holzsplitter vom Türrahmen. Die Tür war erst vor Kurzem aufgebrochen worden. Vielleicht vor einer Stunde? Oder noch weniger?
Niels lehnte sich mit dem Rücken an die Tür. Eine alte Gewohnheit und für ihn die beste Art, sich einen ersten Eindruck zu verschaffen. Ein Bett, ein Tisch, ein Spiegel, Regale, Pinnwände. Sie nannten es eine Garderobe, aber es war mehr als das. Ein Umkleidezimmer, ein Ruheraum, ein Büro – privat. Ja, wirklich persönlich.
»Sie haben schon von unten angerufen«, rief Ida durch die Tür.
»Gehen Sie ruhig vor und sagen Sie, dass ich unterwegs bin. Zwei Minuten, ich finde den Saal schon selbst.«
»Was?«
»Ich habe gesagt, ich finde den Saal schon selbst. Die Bühne.«
Er konnte ihre Verzweiflung spüren, und einen Moment lang tat sie ihm richtig leid. Der Ballettmeister war sicher nicht der angenehmste Chef.
Jemand hatte es eilig, hier etwas zu entfernen . Aber was fehlte?
Er musterte die Wände. Ballettbilder. Fotografien. Schwanensee, La Sylphide, Le Sacre du Printemps . Dicte hatte anscheinend große Triumphe gefeiert. Er ging zu der Pinnwand. Ausgeschnit tene Kritiken, »Weltklasse«, lautete eine Überschrift. »Dicte van Hauens Magie«, eine andere. Postkarten. Bilder von Freunden und Freundinnen. Keine Fotos der Familie. Ein eingerahmtes Tschechow-Zitat, demzufolge die Ballerinas in der Pause wie Pferde stanken, gefolgt von einem Smiley. Auf einigen Bildern war dasselbe Mädchen zu sehen. Eine schöne junge Frau mit langen, schwarzen Haaren. Auf einem der Bilder tanzte sie zusammen mit Dicte. Auf einem anderen standen sie lachend vor dem Opernhaus von Sydney. Er öffnete die Schreibtischschublade. Sie war nicht durchsucht worden, es war nichts Ungewöhnliches zu sehen.
Wer immer hier gewesen war, hatte gewusst, was er wollte . Gesucht hatte er nicht .
Sein Blick fiel auf das Regal. Ballettschuhe. Bestimmt hundert Paar, sorgsam in Plastik verpackt. Ein Kleiderschrank. Es knirschte, als Niels ihn öffnete. Ballettkleider. Vielleicht zwanzig verschiedene. Und ein paar identische. Ein Spiegel. Schminke, schmerzstillende Tabletten der unterschiedlichsten Sorten. Kampferöl, andere Pillen. Kodimagnyl, Paracetamol, Aspirin, Zaldiar.
Warum war hier eingebrochen worden? Was war entfernt worden?
Niels berührte die Schränke. Ließ seine Finger über den kalten Stahl gleiten. Klopfte an die Seitenteile. Gab es vielleicht einen Hohlraum? Dann sah er sich den Tisch an und ging genauso vor. Gab es Geheimfächer, doppelte Böden? Er fand nichts und begann den Boden zu untersuchen. Kroch auf allen vieren. Alte Fußbodendielen. Lose Bretter? Er legte sich auf den Rücken und schob sich mit den Füßen unter den Schreibtisch. Aber auch auf der Unterseite war nichts Bemerkenswertes zu sehen. Er trat noch einmal an die Pinnwand. Starrte auf die Bilder. Drehte sie um. Nichts. Und hinter der Pinnwand? Er nahm sie von der Wand, aber die Rückseite
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