Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition)
Niels. Seine Küsse, seine Liebkosungen, jede noch so kleine Berührung. Ein paarmal hätte sie ihn fast geschlagen, als er von hinten seine Arme um sie gelegt und ihren Hals geküsst oder seine Hände auf ihren Bauch, ihre Arme oder ihre Brüste gelegt hatte: »Lass mich verdammt noch mal in Ruhe!«, hätte sie ihm am liebsten ins Gesicht geschrien. Aber das hatte sie nie getan, stattdessen hatte sie ihren Ekel still ertragen.
»Da sehen Sie den Fötus.« Der Arzt sprach mit ihr, ohne sie anzusehen.
Hannah warf einen Blick auf den Bildschirm und sah ein flimmerndes Licht.
»Und jetzt sehen Sie sein Herz schlagen.«
»Dieses Pochen?« Hannah spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen.
»Ja, das ist das Herz, das schlägt.« Die Schwester lächelte. »Wir vermessen jetzt den Fötus«, erklärte sie. »Auf diese Weise können wir genau ermitteln, wie weit Sie sind.«
Hannah hörte ihre Worte nicht. Sie sah nur das pochende Blinken auf dem Bildschirm. Wie ein Notsignal auf hoher See.
»Acht Wochen plus zwei«, sagte der Arzt. »Das heißt acht Wo chen plus zwei Tage. Plus minus. Das bedeutet, dass Sie gerade noch eine medikamentöse Abtreibung machen können, wenn Sie die Pille spätestens morgen nehmen. Danach müsste das chirurgisch gemacht werden.«
Die Krankenschwester stieß den Arzt am Arm an und zeigte auf den Bildschirm. Hannah hätte das eigentlich nicht sehen sollen. Er setzte sich wieder die Brille auf, kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich erneut auf den Bildschirm.
Die Schwester zeigte noch einmal.
»Ja«, sagte der Arzt und notierte sich noch etwas.
Und Hannah sah auf den Bildschirm. Was der Arzt dann sagte, war vollkommen überflüssig, denn Hannah hatte das andere Pochen längst gesehen. Die Verteidigung hatte an diesem Tag wirklich ihre Hausaufgaben gemacht.
26.
Das Königliche Theater, 13.17 Uhr
Niels war aufgestanden und im Raum auf und ab gegangen, während der Ballettmeister mit wachsender Verzweiflung über den Theaterarzt sprach, um die Verantwortung für das physische Wohl ergehen seiner Tänzer auf jemand anderen abwälzen zu können.
Niels unterbrach ihn: »Den Theaterarzt, können Sie den herholen?«
»Das ist eine Frau. Caroline Christensen«, sagte der Ballett meister, als sollten bei dem Namen irgendwelche Glocken läuten.
»Ich glaube, sie hat Urlaub«, warf der Direktor ein.
»Urlaub? Wie passend. Wann ist sie in Urlaub gegangen?«, fragte Sommersted.
Der Chef versuchte, wie ein Chef zu klingen: »Wir werden noch heute versuchen, sie zu erreichen.«
Niels stellte seine nächste Frage, bevor die beiden Chefs sich in Details wie Urlaub oder Telefonnummern verlieren konnten: »Dicte hatte eine Narbe an der Schläfe. Wissen Sie, woher die stammt?«
Als niemand antwortete, fuhr Niels fort: »Kann sie von einem Unfall stammen? Von etwas, das ihr in ihrer Kindheit zugestoßen ist? Sie war doch seit ihrer Kindheit hier.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, sagte der Ballettmeister. »Das sagt mir auch nichts.«
»Und wie war ihre Stimmung? War sie launisch?«
Der Ballettmeister zuckte mit den Schultern. Er hätte das alles nur zu gerne hinter sich gehabt.
»War sie labil?«, fragte Niels. »Wirkte sie verzweifelt? Ängstlich? Hatte sie Feinde?«
Schweigen. Der Ballettmeister dachte nach. Dann sagte er:
»Ja, instabil, ängstlich, hysterisch, fantastisch, mutig. Und das alles nur am Vormittag. So ist das hier an diesem Ort.« Er beugte sich etwas vor. »Hören Sie. Die jungen Menschen hier kennen und messen sich, seit sie sechs, acht Jahre alt sind. Jeden Tag von morgens bis abends. Sie trainieren zusammen, schwitzen zusammen, weinen zusammen, feiern zusammen, gehen miteinander ins Bett«, sagte der Ballettmeister mit beinahe schriller Stimme. Jetzt kommt es, dachte Niels und ließ ihn ausreden:
»Jeden Tag kämpfen sie darum, die Besten zu sein. Die anderen zu übertreffen. Sie geben ihr Äußerstes. Und in all den Jahren haben sie kaum andere Menschen gesehen. Das ist wie ein Internat, in dem man 20, 25 Jahre bleiben muss. Sie haben sich aus der Gesellschaft da draußen beinahe abgemeldet. Sie können das gut mit Leuten vergleichen, die ins Kloster gehen. Schöne junge Menschen, die einander in allen nur erdenklichen Situationen gesehen haben, mit reihum wechselnden Partnern …« Er machte eine Pause und atmete tief durch. »Also … ja, natürlich hatte Dicte Feinde. Sie war eine der Allerbesten. Und viele beneideten sie um diese Position. Das
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