Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition)
sehen.«
Ein paar Sekunden Stille. Niels spürte förmlich, wie Ida hinter ihm auf der Stelle trat. Sie zoomten die Karte ein.
»Schärfer geht es nicht, leider.«
Niels sah genau hin. Auf der Postkarte waren nur Nuancen zu erkennen, Weiß und etwas schwach Blaues.
»Vielleicht hat der Fotograf das Bild noch im RAW -Format.«
»Was ist das?«
»Die Originalauflösung. Wir kriegen die bloß als jpg.«
»Und was ist der Unterschied?«
Jan sah Niels an. Gott, ist der blöd, schien er zu denken.
»Der Unterschied liegt in der Auflösung«, sagte Jan und fügte dann hinzu: »Also RAW ist viel höher aufgelöst.«
»Auf dem Bild kann man dann mehr erkennen«, ergänzte Ida.
»Nehmen Sie Kontakt mit dem Fotografen auf. Sagen Sie ihm, dass ich das Bild als … im RAW -Format brauche«, sagte Jan.
Niels suchte in seinem Handy Caspers Nummer heraus. Rief ihn an.
»Sind wir fertig?«, fragte Ida.
Niels überhörte sie: »Casper? Du musst mit jemandem hier im Theater zusammenarbeiten, er heißt Jan, es geht um eine Detailvergrößerung eines Fotos. Das hat höchste Priorität. Ich gebe ihn dir jetzt.« Niels reichte Jan das Telefon.
Ida sagte etwas über den Ballettmeister, Jan erklärte Casper, um was es ging, aber Niels hörte keinen von ihnen. Nur seine eigene innere Stimme. Warum eine Postkarte? Was war auf dieser Postkarte? Ein Gruß? Eine Verabredung? Ein entscheidender Hinweis?
29.
Østerbro, 13.45 Uhr
Wieder eine Pause des Verfahrens. Hannah sah doppelt. Plötzlich gab es von allem zwei. Sie listete in Gedanken auf, was alles immer paarweise war. Zwei Fahrbahnen. Zwei Menschen, die sich liebten. Zwei Hosenbeine. Zwei Seelen in ihrem Bauch. Doppelmord. Ein Verbrechen, das in jeder zivilisierten Gesellschaft mit einer lebenslangen Haftstrafe geahndet werden würde. Mit sozialem Ausschluss, Verachtung, lebenslanger Ächtung. Was würde der Richter dazu sagen?
Hannah wurde plötzlich bewusst, dass sie den Wagen geparkt hatte. Aber gar nicht zu Hause war. Vielleicht wollte sie einfach nur einen Moment lang in Ruhe sitzen. In gar nicht langer Zeit musste sie für dieses Beratungsgespräch wieder zurück ins Krankenhaus. Warum hatte sie eingewilligt, all das mitzumachen? Und wo war sie eigentlich? Sie blickte nach oben. Zentrum für GeoGenetik des Biologischen Instituts der Universität Kopenhagen. Warum war sie hier?, fragte sie sich und starrte auf das Ge rüst, das einen Großteil der Fassade bedeckte. Fassade . Einen Moment lang dachte sie darüber nach, was dieses Wort bedeuten konnte. Eine Fassade konnte die Wirklichkeit verdecken. Die Tatsache, dass sie einen Doppelmord plante. Aber klang sie jetzt nicht wie die amerikanischen Evangelikalen, die die Europäer so schwer verstehen können? Die militanten Abtreibungsgegner. Abtreibung war kein Mord. Warum fuhr sie nicht einfach nach Hause und versuchte, sich ein bisschen auszuruhen? Sie lauschte in sich hinein, doch es kam keine Antwort. Ihre Gedanken und die Schlaflosigkeit zapften ihr schon seit Tagen die Kraft ab. Sie riss sich zusammen und stieg aus dem Auto. Die Sonne blendete sie. Unwirklich wie eine Fata Morgana. Es war seltsam, hier entlangzulaufen. Ebenso seltsam und unwirklich, wie es für sie war, zwei kleine, klopfende Herzen in ihrem Inneren zu tragen, die sie in ein paar Stunden umbringen wollte, hinrichten.
Aber das Gefühl der Unwirklichkeit half ihr. Es erleichterte es ihr, durch die Tür des Hauses und über die Treppe nach oben zu gehen und an eine Tür zu klopfen. Sie war mit Gustav, ihrem widerlichen Genie von Exmann, ein paarmal hier gewesen. Er hatte wie die meisten anderen große Stücke auf den jungen Biologen gehalten, der in der DNA -Forschung so tolle Resultate erzielt hatte und der jetzt hinter ihr die Treppe hochgestapft kam. In einer etwas weniger vorzeigbaren Variante. Rote Augen, lässige Klamotten, Alkoholfahne?
»Eskild Weiss?«
Der Mann blieb stehen und sah sie an, ohne sie wiederzuerkennen. Hannah dachte gerade, dass es vielleicht ganz gut war, dass er sich nicht an sie erinnerte, als er sagte:
»Hannah Lund. Ich hätte dich fast nicht wiedererkannt. Wie geht es Gustav?« Er gab ihr die Hand. »Ist er noch in Vancouver?«
»Toronto. Hast du einen Augenblick Zeit?«
»Klar, es ist aber ein bisschen unordentlich bei mir.« Er schloss sein Büro auf. »Wir hatten gestern unsere Weihnachtsfeier, weißt du, und aus irgendeinem Grund endet dieses Fest immer bei mir im Büro.« Er lachte. Ein trockenes Lachen, das nach
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