Der schlafende Engel
ich recht?«, fragte sie.
Die Wut auf Jessicas Zügen wich einem Ausdruck tiefer Traurigkeit.
»Das ist das Problem mit der Wahrheit, April. Alle bilden sich ein, sie wollten sie hören, aber wenn es soweit ist, trifft es sie aus heiterem Himmel.«
April stand auf der Straße und sog tief die Nachtluft in ihre Lungen. Seltsam, wie still es mitten in der Stadt sein kann , dachte sie. Doch wenn man genau hinhörte, registrierte man das leise Summen des Verkehrs, Stimmen, die übliche Alltagsgeräuschkulisse, die niemals verstummte.
Vielleicht gilt dasselbe ja auch für Geheimnisse , dachte sie und betrachtete die kunstvolle Darstellung von Jack the Ripper mit dem klischeehaften Zylinder und dem dunklen Umhang um die Schultern. Vielleicht waren sie die ganze Zeit da und warteten nur darauf, dass man sie entdeckte. Und vielleicht war es klüger, gar nicht erst hinzusehen. Sie ließ die Buchhandlung hinter sich und dachte erneut an die Kratzspuren im Holz der Tür. Sie wollte nicht hier herumstehen und darauf warten, dass die moderne Version von Jack the Ripper auftauchte, wer auch immer es sein mochte. Gabriel? Sie musste ein Lachen unterdrücken. Okay, er war ein Vampir und durchaus in der Lage, gewalttätig zu werden – das hatte sie heute Abend erlebt –, aber er war auch … sanftmütig. Das war das richtige Wort. Und anständig. Und so sensibel, so sensibel, dass ihn die Selbstzweifel förmlich zerfraßen.
Sie zog ihr Handy aus der Tasche und scrollte zu Gabriels Nummer.
Wenig überraschend sprang die Voicemail an.
»Hi, ich bin’s«, sagte sie nach dem Piepton. »Was ich auch immer gesagt haben mag, es tut mir leid. Bitte ruf mich an, ja? Ich liebe dich.«
Dann scrollte sie zu Fionas Nummer und drückte die Anruftaste.
»Heb ab, Fee, bitte heb ab«, flüsterte sie.
»Hey, meine Schöne.« Fees Stimme klang leicht belegt und erschöpft.
»Oh Gott, ich habe dich doch nicht geweckt, oder?«
»Nur ein bisschen. Ich bin offenbar eingedöst.«
»Bitte entschuldige, Süße, aber ich musste einfach deine Stimme hören. Hier läuft alles ziemlich aus dem Ruder.«
Augenblicklich schien Fiona hellwach zu sein. »Was ist los? Wo bist du?«
»In Covent Garden, auf dem Heimweg, aber um diese Uhrzeit ist es ein bisschen unheimlich hier.«
Sie schilderte Fiona die Ereignisse auf der Party.
»Oh Mann, und wo ist dein Ritter in schimmernder Rüstung?«
»Er ist davongelaufen.«
»Oje, das klingt aber gar nicht gut. Streit zwischen Verliebten?«
»Nein, er ist eher …« April bog in die Straße, in der ihr Großvater wohnte. Die Terrasse war in den Schein einer jener Straßenlampen im altmodischen Gaslampen-Stil getaucht, von denen die Japaner so hin und weg waren. Vor dem Haus stand ein Mann.
»April?«, fragte Fiona. »Was ist los? Hast du irgendetwas gesehen?«
»Vor Grandpas Haus steht ein Typ«, flüsterte sie und versteckte sich hinter einer Mauer.
»Wer ist es? Gabriel?«
»Keine Ahnung.« Grandpa Thomas’ Haus war von einem schwarzen schmiedeeisernen Zaun mit einem hohen Tor umgeben. Angestrengt spähte sie in die Dunkelheit. Der Mann schien am Tor zu stehen und durch die Eisenstäbe zu blicken.
Was zum Teufel trieb er da?
Sie trat ein paar Schritte vor. »Gabriel?«, rief sie leise, das Telefon immer noch ans Ohr gepresst.«
»Du gehst auf keinen Fall da hin«, befahl Fiona. »April, geh nicht! Ich verbiete es dir!«
Aber April überquerte bereits die Straße und sah, dass der Mann sich an den Zaunstäben festhielt, als wollte er daran rütteln oder darüber klettern. War Gabriel gekommen, um doch noch mit ihr zu reden?
»Gabriel?«, fragte sie noch einmal. »Bist du das?«
Doch inzwischen sah sie, dass er es nicht war – der Mann war kleiner und hatte ganz andere Haare. Aber er drehte sich nicht um.
»Hallo? Entschuldigung, aber was machen Sie da?«
April war nur noch zwei Schritte von ihm entfernt. Sie streckte die Hand aus, um ihn zu berühren, als das Tor nach innen aufschwang.
Sie schrie. Denn nun sah sie ihn. Seine Hände waren auf den Spitzen der Zaunpfähle aufgespießt, und in seinem Hals klaffte eine riesige blutende Wunde. Zu seinen Füßen hatte sich eine Blutlache gebildet. Und dann erkannte sie ihn. Es war Calvin, der Junge von der Party.
April schrie ein weiteres Mal.
Siebzehntes Kapitel
I ch habe keine Ahnung, wo er steckt, Mr Reece. Ich wünschte, ich wüsste es.« April strich sich das Haar aus dem Gesicht und sah den Polizisten an. Das kommt mir alles bekannt vor
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