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Der schlaue Pate

Der schlaue Pate

Titel: Der schlaue Pate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Schnell
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um über den Märchen-Weihnachtsmarkt zu wandeln und sich abends die Show anzusehen. In dem Umschlag, den Niki ihr geschenkt hatte, waren zwei Karten für den krönenden Abschluss am nächsten Sonntag, eben die Wahl der besten Artisten des Jahres. An sich hatte Desirée für Zirkus nicht mehr viel übrig, aber Niki schien wie viele Russen regelrecht zirkusverrückt zu sein, also hatte sie so getan, als würde sie sich freuen.
    »Wie läuft’s denn mit Niki?«, fragte Andreas, als könnte er Gedanken lesen.
    Sie seufzte. »Er schwört, ich sei seine große Liebe. Er will jede Minute mit mir verbringen. Er hat ganz schön Theater gemacht, als ich ihm sagte, dass er heute nicht dabei sein soll. Er redet von Heirat.«
    Andreas grinste. »Ist er schon bei dir eingezogen?«
    »Um Gottes willen. Seit Neujahr übernachtet er wieder zu Hause bei seinen Eltern. Er hat irgendwie gar nicht realisiert, dass wir diesen schrecklichen Mord …«
    Andreas blickte nach links, zu den ineinander übergehenden Gebäuden der Gerichte und der Staatsanwaltschaft, dann nach vorn zur Rückfront des Krankenhauses über der wuchtigen Stützmauer des Weinbergs, und bog hinter dem Multiplex rechts ab.
    »Wir brauchen ihn noch«, erklärte er zurückhaltend.
    »Ja, das sagt   er   auch.« Wenn Desirée ein »Er« betonte, meinte sie immer ihren Vater; sie wusste nie so recht, wie sie ihn anreden oder über ihn sprechen sollte, daher immer nur »du« und »er«. »Ich soll ihn unbedingt bei der Stange halten. Das hat er wörtlich gesagt. Bei der Stange.«
    Andreas schaffte es nicht, ein Kichern zu unterdrücken. »Kann seine Katharina nicht auch Russisch?«
    »Ich glaube, die geht ihm auch langsam auf die Nerven. Und er kann sie nicht mal wegschicken, weil sie vorläufig nur bei ihm sicher ist.« Desirée schüttelte den Kopf. »Er meinte, ich würde noch lernen, dass das immer so sei: Einer liebt wie verrückt, aber der andere hat ihn bloß gern, und irgendwann fängt der, der liebt, an zu leiden.«
    »Wir gewöhnen uns nie daran, dass wir anderen Menschen nicht so viel bedeuten wie sie uns«, stimmte Andreas zu, bog vor dem an die Spätrenaissance erinnernden Gebäude des Hessischen Landesmuseums links ab und rollte über das grobe Pflaster der schmalen Weinbergstraße. »Und das Gefühl, entbehrlich zu sein, ist immer ein scharfer Stich.«
    Er zitierte fast wörtlich aus dem »Dritten Mann« von Graham Greene, obwohl ihm im Augenblick nicht einfiel, wo er das gelesen hatte, und fand einen Parkplatz vor der Murhardschen Bibliothek, gegenüber dem Haupteingang des Krankenhauses. Der Bentley rollte weiter, bog um die Ecke und musste fast bis zum Museum für Sepulkralkultur fahren; es dauerte ein paar Minuten, bis die drei anderen auftauchten. Prinz und Ollie musterten die geparkten Wagen.
    »Sogar Ingrid hat jetzt dieses Problem«, meinte Desirée beim Aussteigen. »Gleich zweimal. Mit Erich und diesem Samir. Sie meint, es sei vielleicht nicht immer so, aber ziemlich oft.«
    »Erich?«, fragte Andreas fassungslos, diskutierte das aber nicht weiter, als sie das Krankenhaus betraten. »Baginski verbittet sich Beileidsbekundungen«, teilte er mit, »und er scheint selbst bisher keinen Zusammenhang zu ahnen, also behalten wir vorläufig alles für uns, was wir wissen und vermuten.«
    Krankenhäuser sind groß oder klein, aber sonst immer gleich, und sie riechen auch immer gleich. Baginski hatte natürlich ein Einzelzimmer mit zwei Polizisten in Zivil vor der Tür, die gelangweilt auf Stühlen hockten und in alten Zeitschriften blätterten. Sie erkannten Andreas, der erklärte, die Übrigen gehörten zum Team der Verteidigung, und erhoben keine Einwände.
    Baginski lag im Schlafanzug im Bett, hatte einen Verband um den Kopf, der das linke Auge bedeckte, aber anders als gestern hing er nicht mehr an irgendwelchen Kanülen. Er war ein mittelgroßer, schlanker Mann, der viele Jahre dick gewesen war; er wirkte etwas weichlich, wie ein zusammengesackter Teig. Am freien Auge hatte er ein enormes Veilchen, am Kinn einen Bluterguss, die Oberlippe war genäht worden. Er setzte eine Schnabeltasse mit einem Nierentee ab, verzog vor Schmerz das Gesicht, brachte aber ein schwaches Lächeln zustande.
    Überraschenderweise hatte er Besuch: einen Mann und eine Frau, vielleicht um die sechzig, sonnengebräunt, edel gewandet und edel frisiert, die Frau blond, mit ein bisschen zu viel Schminke im Gesicht und etwas zu protzigen Ringen an den Fingern, er grau, aber

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