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Der schlaue Pate

Der schlaue Pate

Titel: Der schlaue Pate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Schnell
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Samstag begann der Neujahrsempfang im Rathaus nachmittags um vier. Das Rathaus war ein sandfarbener wilhelminischer Protzbau mit breiter Treppe, aus irgendeinem Grund als eines der wenigen innerstädtischen Gebäude von den Bomben verschont, und vor Kurzem innen aufwendig restauriert worden. Sonst stammte die Innenstadt zu großen Teilen aus den fünfziger und sechziger Jahren und war nicht schön.
    Die Veranstaltung wurde nicht öffentlich angekündigt, aber jeder, der den Termin wissen wollte, konnte davon erfahren. Das Ergebnis war ein unglaubliches Geschiebe von Menschenmassen auf den Treppen, in den Fluren und Sälen. Überall waren Monitore aufgebaut. Als Prinz und Andreas, Desirée mit Niki, Ollie mit Anja und Ingrid mit Samir – Katharina sah ein, dass sie nicht mit Prinz gesehen werden durfte, schmollte aber trotzdem – gegen Viertel vor fünf eintrafen, beendete Oberbürgermeister Bertram Hilgen im gestopft vollen Stadtverordnetensaal gerade seine Ansprache, die auf die Monitore übertragen wurde. Natürlich ritt er wieder mal darauf herum, dass Kassel gerade von einem Institut zur dynamischsten Großstadt Deutschlands erklärt worden war, und bei der Lebensqualität liege die Stadt auf Platz drei hinter Freiburg und Münster. Applaus, Applaus, dann fluteten die Massen aus dem Stadtverordnetensaal, an die Bars im Gang oder die Treppe runter in den Bürgersaal. Mädels trugen Tabletts mit Häppchen, Wasser oder Wein herum. Prinz und Anja schnappten sich Wasser, die anderen Rotwein, dann drängten sie sich an der Masse vorbei in den Saal. Vor dem Podium, von dem Hilgen bereits getreten war, waren mehrere Stuhlreihen aufgebaut, die ersten drei mit Namensschildern für die Promis.
    Inzwischen standen fast alle in Grüppchen zusammen, mehrere Fotografen schossen die Promis ab. Desirée entdeckte den Autor zuerst. Volker Schnell stand in einer Schlange von sechs oder sieben Leuten, die Hans Eichel die Hand schütteln wollten: ein großer Typ mit grau werdendem Resthaar und einer dicken Brille; er trug Jeans und seine unvermeidlichen Schlappen; im Winter wenigstens welche, die vorn geschlossen waren.
    Aus den Augenwinkeln erkannte ich zuerst Andreas, vielleicht zwanzig Meter entfernt in der Menge, als ich endlich an der Reihe war.
    Man sagt, Politiker hätten meist ein phänomenales Personengedächtnis, aber auf den früheren Bundesfinanzminister traf das nicht zu. Vor einem knappen Jahr hatte ich mit ein paar anderen bei einem anderen Empfang bei ihm und seiner Frau am Tisch gesessen und über seine Anekdoten gelacht (zum Beispiel über Berlusconi, der bei internationalen Konferenzen immer nur Zoten tief unter der Gürtellinie von sich gegeben haben soll), aber als ich vor ein paar Wochen mit Mario Zgoll, dem Fotografen des Jérôme, bei ihm klingelte und dann zwei Stunden über sein Leben, die Politik und die Eurokrise mit ihm plauderte, ließ er nicht erkennen, dass er mich kannte. Und jetzt sah ich ihm beim Händeschütteln an, dass mein Gesicht ihm etwas sagte, er aber nicht recht wusste, wo er es hintun sollte.
    Erst als ich fragte, wie ihm mein Artikel in der Weihnachtsausgabe des Jérôme gefallen habe, grinste er fröhlich und meinte, das sei der beste gewesen, den er aus Anlass seines siebzigsten Geburtstags zu Gesicht bekommen habe, »so locker!«. Mario machte ein Foto von uns. Dann drängelte sich der nächste Händeschüttler vor.
    Zu erwähnen, dass mich Klaus Becker schon vor über dreißig Jahren dem damaligen Oberbürgermeister vorgestellt hatte, war sinnlos: Die beiden hatten sich nicht riechen können, als Eichel   OB   wurde, hatte Klaus seinen Job als Pressesprecher der Stadt geschmissen und ihn später im   EXTRA   TIP   heftig attackiert. Parteifreunde. Als Klaus, nach dem Desaster des Brandt-Stoph-Treffens, mit noch nicht sechsundzwanzig neuer Pressesprecher wurde, sagte Holger Börner zu ihm: »So, du bist also jetzt derjenige, der aus Scheiße Kartoffelpuffer machen soll.« Das ist die beste Definition politischer   PR , die ich je gehört habe. Haben Sie sich mal die Rohmasse von Kartoffelpuffer angeguckt? Sieht aus wie ein erstklassiger Dünnpfiff.
    Klaus hatte mich angemacht, als ich sechzehn und er mehr als doppelt so alt war. Allerdings musste er feststellen, dass ich weder schwul noch bi noch umzupolen war, und lebte daher seinen pädagogischen Eros an dem Jungen ohne Abitur aus der Nordstadt aus.
    Nun war der Klaus schon über ein Jahr tot, mit nur sechsundsechzig

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