Der schlaue Pate
fragte, ob er die Dialoge gerade erfand oder tatsächlich noch im Gedächtnis habe. Baginski lächelte versonnen vor sich hin.
»Diese Frau ist seit dreißig Jahren ständig in meinen Gedanken präsent«, sagte er. »Das geht nicht weg, auch jetzt nicht. Ich habe mir schon vor Jahren angewöhnt, ihre Abwesenheit als ihre Form der Anwesenheit zu denken. Deshalb komme ich, glaube ich, inzwischen einigermaßen damit zurecht, dass ihre Abwesenheit jetzt permanent sein wird, nicht mehr vorübergehend. Aber ich habe noch fast jeden Satz annähernd wörtlich im Kopf, der jemals zwischen uns gefallen ist.«
Rind musterte ihn, dann notierte er etwas.
»Haben Sie im Restaurant über etwas Besonderes geredet?«, fragte Andreas.
»Wir haben wie immer den Stand unserer jeweiligen Beziehungen durchgehechelt, die beide so ziemlich am Ende waren, und darüber, ob wir es nicht doch miteinander probieren sollten, denn ich bin ja immer derjenige gewesen, der sie am besten versteht. Moment.« Baginski riss die Augen auf. »Sie hat seit Kurzem eine neue Theorie, warum sie ihre Männer immer zwanghaft zurückstößt, von der sie mir im Herbst erzählte. Sie hatte einen Traum, in dem sie als Zweijährige von einem Mann missbraucht wird. Es war wohl alles nicht so recht deutlich, aber offenbar ganz überwältigend war das Gefühl, dass ihre Eltern davon wussten, ihr aber nicht halfen. Und sie sagte: ›Ich habe in diesem Traum einen ganz starken Schmerz zwischen den Beinen gespürt. Das war real.‹ Ihre Eltern sind tot, aber sie wollte die Brüder fragen, die zehn und elf Jahre älter sind. Nun erzählte sie, an ihrem Geburtstag habe sie die Brüder gefragt, und die wüssten beide von nichts.«
»Nun, hm, die wären dann zwölf und dreizehn gewesen«, sagte Rind. »In dem Alter lebt man in seiner eigenen Welt. Gut möglich, dass sie nichts mitbekommen haben.«
»Das sagte ich ihr auch, und sie stimmte zu. Außerdem sagte ich, dass ihre Mutter ja fast zehn Zentimeter größer war als sie, der Vater war ein Hüne, die Brüder sind es auch. Sie ist mit eins achtundsechzig für eine Frau im normalen Bereich, aber trotzdem ist das ungewöhnlich. Menschen, die in den sechziger Jahren geboren wurden, sind in der Regel etwa zehn Prozent größer als Menschen, die in den Zwanzigern zur Welt kamen. Ihre Töchter sind auch wesentlich größer. Ich habe mal eine Studie gelesen, dass Opfer chronischen Missbrauchs histologisch häufig an einer Wachstumsverzögerung leiden.«
»Das stimmt, hm, aber es kann auch genetischer Zufall sein«, wandte Rind ein.
»Ja, natürlich, aber ich sagte ihr, es könne ein weiterer Hinweis sein, dass sie mit ihrem Traum auf der richtigen Spur sei. Sie wollte es jetzt genau wissen und sich einer Tiefenhypnose unterziehen, und das hat sie den Brüdern bei dem Geburtstag erzählt.« Er blickte von Prinz zu Andreas und wieder zurück.
Die beiden sahen sich an. Prinz hob leicht die Schultern.
»Da gibt es keine Garantien«, sagte Rind.
»Natürlich nicht, das sagte ich ihr auch, und es war ihr selber klar. Danach wandten wir uns dem Thema zu, ob wir es tatsächlich heute Nacht probieren sollten, und kicherten viel. So zwischen halb und Viertel vor zehn rollte ich mit dem Wagen diesen schmalen Weg an der Bahnlinie entlang und stellte ihn vor den Garten. Grinsend und händchenhaltend schritten wir in der finsteren Nacht hinein. Kein Licht, kein Mensch weit und breit. In der Laube roch es muffig, ein paar wenige steinalte Möbel, ›alles noch vom Vorbesitzer‹, sagte sie, sie hatte überhaupt nichts verändert, nur hier ganz für sich allein herumgesessen. An einer Wand eine Couch, die aussah wie aus den Fünfzigern, ›man kann die Seitenlehnen ein bisschen ausziehen, für mich reicht das.‹ Zwar Mauerwerk, kein Holz, aber kühl wurde es doch. In der Küche fand sich kein Korkenzieher. ›Mist. Ich war sicher, da wäre einer.‹ Die erste Stunde verbrachte ich damit, erst mit einem Messer aus der Küche, dann mit Hammer und Nägeln, Schrauben und Schraubenzieher aus einem Werkzeugkasten an diesen blöden Korken herumzuwursteln, die sich weder zerschneiden, herausziehen noch reindrücken lassen wollten, während sie in einem angebauten Schuppen nach einem vielleicht geeigneteren Gegenstand suchte. Endlich, nachdem ich zum dutzendsten Mal die dickste Schraube reingedreht hatte, konnte ich sie mit einer Zange mitsamt Korken rausziehen. Ich ging in den Schuppen, wo Ellen fluchend herumkramte. ›Ich
Weitere Kostenlose Bücher