Der schlaue Urfin und seine Holzsoldaten
können.
„Ich muß mich euretwegen schämen”, sagte die Königin mißmutig. „Soll ich mich
vielleicht selber auf die Suche begeben?”
„O nein, nein!” piepsten die Mäuse im Chor. „Wir wollen es noch einmal versuchen, und
dann …”
„Halt, Kinder!” rief da die alte Maus. „Als ich noch jung war, entdeckte ich einmal in einer
mit Gestrüpp bewachs enen Schlucht eine Öffnung. Es sind vielleicht fünfzehntausend
Schritt von hier, wenn man nach Osten geht. Sucht ihr etwa diese Öffnung?”
„O gewiß, es kann ja keine andere sein”, rief Elli händeklatschend.
„Habt Dank, Großmütterchen!”
Da sprach die Mäusekönigin würdevoll:
„Geht in die genannte Richtung, liebe Schwester. Sollte es nicht die gewünschte Öffnung
sein, so ruft mich wieder.”
Im Nu verschwanden die Mäuse, worüber Totoschka sehr enttäuscht war, denn er hatte
sich schon lebhaft vorgestellt, wie er sich auf sie stürzen und ein heilloses Durcheinander
anrichten werde.
Nun lief er voran, um Ausschau zu halten. Als er sich versichert hatte, daß kein Feind in
der Nähe war, kamen auch die anderen nach.
Sie hatten genau fünfzehntausend Mäuseschritte gemessen, da sahen sie eine Schlucht vor
sich, in der sie auch die Öffnung fanden. Modergeruch schlug ihnen entgegen, als sie näher
traten.
„Da ist ja die Öffnung!” rief Elli.
Totoschka schnupperte und sagte dann besorgt:
„Mir gefallen die Gerüche nicht, die aus diesem Loch kommen.”
Der Löwe begann mit seinen mächtigen Tatzen die Öffnung zu erweitern. Der einbeinige
Seemann fällte eine harzige junge Kiefer, von der er etwa zwei Dutzend Kienspäne für
Fackeln abspaltete.
Nun betraten sie vorsichtig den unterirdischen Gang. Als erster ging der Löwe, auf dessen
Kopf die Krähe saß. Ihm folgte Elli mit Totoschka auf den Armen. Als letzter ging Charlie,
eine brennende Fackel in der erhobenen Hand.
In dem feuchten dunklen Gang war allem Anschein nach schon seit Jahrzehnten niemand
gewesen. Die dicken Balken, die die Decke und die Wände stützten, hatten sich in den
vielen Jahren mit dichtem grünem Moos bedeckt. In den Vertiefungen auf dem Boden
hatten sich Lachen gebildet, in denen ekelhafte Schnecken herumkrochen. Vor jeder Lache
setzte sich Elli auf den Rücken des Löwen und ließ sich hinübertragen.
Die Luft wurde immer dumpfer.
Dann ging es steil abwärts, und weiter waren sogar Stufen in den Boden gehauen, die fast
senkrecht hinabführten.
Plötzlich tat sich eine riesige Höhle auf. Sie war so groß, daß ihr Ende nicht zu sehen war.
Elli drückte sich ängstlich an den Löwen.
„Wie schrecklich”, hauchte sie.
Die Krähe flog voran.
Charlie Black zündete eine zweite Fackel an und reichte sie Elli. Er ging langsam, den
Boden mit einem Stock abtastend, voran.
Die Schar hatte etwa tausend Schritte gemacht und war an vielen Seitenstollen
vorbeigekommen, als Kaggi-Karr kreischend umkehrte.
„Ein Ungeheuer!” schrie sie.
Im Fackelschein konnte man ein riesiges Tier aus einer Öffnung in der Felswand kriechen
sehen. Es hatte einen runden Rumpf, der mit dichtem weißem Haar bedeckt war, und sechs
kurze, dicke Füße, mit langen Krallen. Ein fleischiger, runder Kopf saß auf einem kurzen
Hals, und der weit aufgesperrte Rachen zeigte zahllose spitze Zähne.
„Ein Sechsfüßer!” schrie Elli und sprang zur Seite.
Das Merkwürdigste an diesem Tier waren seine gewaltigen weißen Augen, in denen sich
der rote Schein der Fackel widerspiegelte. Allem Anschein nach waren die an die
Finsternis gewöhnten Augen vom plötzlichen Fackellicht geblendet, so daß das Tier sich
nach seinem Spürsinn orientieren mußte. Es stand auf seinen massigen Füßen und
schnupperte mit großen geblähten Nüstern. Vom unbekannten Geruch lebender Wesen
gereizt, ließ es ein heiseres Schnauben hören, das der Löwe durch ein Gebrüll erwiderte,
dessen Echo vom Gewölbe hundertfach zurückgeworfen wurde.
„Laßt mich ran!” schrie der Löwe. „Ich will ihm die überflüssigen Beine ausreißen!”
Er machte einen Satz und prallte mit ungeheurer Wucht gegen die Flanke des Sechsfüßers.
Der Löwe hatte den Feind umwerfen und ihm mit den Krallen den Hals zerreißen wollen,
doch das Ungeheuer stand unerschütterlich wie ein Fels auf seinen sechs dicken Beinen,
und während der Löwe rücklings zu Boden stürzte, biß ihn der Sechsfüßer mit einer
Behendigkeit, die man dieser Fleischmasse niemals zugetraut hätte, in die Schulter.
Der König der Tiere
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