Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
ausführlich über die Ereignisse des Vortags. Ich nahm mir die Zeit, ihr in aller Ruhe zuzuhören, denn ich spürte, dass sie auf diese Weise die ungeheure Anspannung abbaute, unter der sie litt. Ich erwähnte den Drohanruf, den ich am Tag zuvor erhalten hatte.
»Der Mann kündigte an, dass du in eine Straßensperre der Terroristen geraten würdest und ich dich niemals wiedersehen würde.«
»Es tut mir so leid, dass du dir meinetwegen jeden Abend solche Sorgen machen musst. Aber meine Arbeit ist die einzige Ablenkung, die ich habe. Sie hilft mir, nicht an dieses verfluchte Land zu denken.«
»Ich verstehe dich, mein Liebling, und ich bin dir auch nicht böse.«
Die Tage vergingen, die politische Spannung war spürbarer denn je. Sie umschlang uns von allen Seiten wie ein Krake seine Beute. Die Dienstzeiten meines Mannes waren unregelmäßig, außerdem war er stets an verschiedenen Orten im Einsatz. Er ging zum Dienst, besuchte seine Geliebte und kehrte zu seiner Familie zurück, während ich mit Melissa und den Kleinen zu Hause saß und mir unablässig Sorgen um die anderen machte …
Kurze Zeit später bestätigte ein zweiter Vorfall meine schlimmsten Befürchtungen. Es geschah vor Sonnenaufgang gegen fünf Uhr morgens. Norah hatte gerade das Haus verlassen, um zu der zweihundert Meter entfernten Bushaltestelle zu gehen, und ich lag noch schläfrig im Bett mit Ryan, der nach einem Albtraum zu mir unter die Decke gekrochen war.
Plötzlich wurde die Haustür aufgerissen, und Norah rief verzweifelt nach mir. Mit einem Satz sprang ich aus dem Bett und rannte zu ihr.
Sie weinte bitterlich und stürzte sich in meine Arme. Immer wieder stieß sie hervor:
»Ich hatte solche Angst, Mama. Halt mich ganz fest.«
»Was ist denn passiert? Hat dich jemand angegriffen? Bist du verletzt?«
Norah schluchzte hemmungslos. In ihren Zügen lag etwas Gehetztes, ihre Kleider waren zerknittert, ihre Haare aufgelöst und ihre Wangen vor Aufregung gerötet. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich ein wenig beruhigte.
»Fast hätten sie mich erwischt, Mama! Fast hätten sie mich erwischt!«
»Erzähl mir doch, was geschehen ist, mein Liebling!«
»Ich stand schon an der Haltestelle, als ein Auto vor mir anhielt. Zwei Männer saßen darin. Der Beifahrer stieg aus und kam zu mir. Der Motor des Autos lief noch. Wenn du ihn gesehen hättest, Mama! Er war schmutzig, bärtig und hässlich. Sein T-Shirt war blutbefleckt. Einfach widerlich! Am liebsten wäre ich nach Hause zurückgekehrt, aber der Bus musste ja eigentlich gleich kommen. Der Mann wollte wissen, was ich so früh am Morgen auf der Straße zu suchen hätte. Meine Antwort passte ihm nicht, und so schimpfte er los: › Willst du dich über mich lustig machen? Es ist Freitagmorgen. Was arbeitest du denn an einem Freitagmorgen? ‹ Dann warf er seinem Kumpel im Auto einen Blick zu.«
Norah hielt inne, um Atem zu schöpfen. Offenbar kostete es sie große Überwindung, mir die weiteren Ereignisse zu erzählen. Hatten die Männer meine Tochter auf offener Straße vergewaltigt? Schließlich fuhr sie mit festerer Stimme fort.
»Er behauptete, er wäre ein Wahrsager und könne mir aus der Hand lesen. Schnell versteckte ich meine Hand hinter dem Rücken und sagte, dass nur Gott allein die Zukunft kennen würde. Wütend brüllte er: › Du weißt ja nicht einmal, wer Gott ist! ‹ Er wirkte, als hätte er den Verstand verloren. Ich fürchtete, dass er auf mich losgehen könnte. Um ihn zu beschwichtigen, reichte ich ihm meine Hand. Dabei zitterte ich am ganzen Körper. Immer wieder musste ich auf sein blutverschmiertes T-Shirt starren. Er packte meine Hand und zogmich zum Auto. Dann wollte er mich hineinstoßen, aber ich wehrte mich mit Händen und Füßen. Jetzt begriff ich, dass er ein Terrorist war und mein Leben auf dem Spiel stand. Ich schrie, aber es gab niemanden, der mich hätte hören können. Er riss mich an den Haaren und tat mir weh. Dann zog er ein Messer hervor und setzte es an meinen Hals! Ich war sicher, dass ich jetzt sterben würde. Da quietschten Reifen neben mir, und eine Stimme rief meinen Namen. Was dann geschah, weiß ich nicht mehr. Ich verharrte regungslos wie eine Marionette, die man nach Belieben in Bewegung setzt. Dann nahm ich wahr, wie der Angreifer seinen Griff lockerte und flüchtete. Ich fiel zu Boden. Wieder hörte ich meinen Namen und öffnete die Augen. Sie halfen mir auf …«
»Wer hat dir geholfen?«
»Ich weiß nicht einmal mehr ihre Namen!
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