Der Schlittenmacher
ist in der International Refugee Organization tätig, meistens als
Dolmetscherin. Dreimal in der Woche arbeitet sie am Pier 21 mit einer Frau zusammen, die unter dem Spitznamen »German Sister« bekannt ist – sie heißt eigentlich Florence Kelly. Pier 21 ist die Stelle, über die Einwanderer nach Kanada gelangen. Die »German Sister« arbeitet in einer Gruppe namens »Sisters of Service«. Viele fragen sich, wie jemand mit dem irischen Namen Kelly dazu kommt, Deutsch zu dolmetschen. In Wahrheit ist Florence Kelly in Neuschottland geboren und aufgewachsen und hat erst an der Universität so gut Deutsch gelernt. Dennoch, so erzählte Helen Duoma, geschehe es oft, dass ein Einwanderer aus Deutschland behauptete, er erkenne an ihrem Akzent, aus welcher Gegend in Deutschland die »German Sister« komme.
Helen und Randall haben einen Sohn namens Talbot, mit vollem Namen Talbot Frederic Duoma Webb – Frederic nach Frédéric Chopin, der sowohl Helens als auch Randalls Lieblingskomponist ist. Randall verbringt ungefähr die Hälfte seiner Zeit zu Hause und die andere Hälfte im Laden, deshalb sehen wir uns nur an diesen beiden Orten. Helen und Randall laden mich regelmäßig zum kanadischen Thanksgiving und zu Weihnachten ein, und das ist immer nett. Wir verbringen auch den Silvesterabend zusammen, und bei dieser Gelegenheit fragen mich Helen und Randall jedes Mal unabhängig voneinander: »Wann heiratest du denn mal, Wyatt?« Und wenn ich dann nach Hause gehe, frage ich mich, ob sie das vorher abgesprochen hatten.
Ballade & Fugue hat Freitag und Samstag bis zehn Uhr abends geöffnet, sonst immer bis sechs Uhr. Randall hat Gipsbüsten von den großen Komponisten auf einem Regal stehen (es ist kein Kanadier dabei). Ich setze mich oft auf das Sofa und höre mir verschiedene Schallplatten an, während die Kunden
kommen und gehen. Manchmal übernehme ich die Kasse, wenn Randall und Helen in ein Restaurant essen gehen, meistens ins Rex Hotel. Randall bleibt aber nie länger als eineinhalb Stunden weg. Zum Geburtstag schenken sie mir immer irgendeine Aufnahme. Dieses Jahr, zu meinem 43., waren es die Violinsonaten op. 5 von Arcangelo Corelli – meine erste Schallplatte von Corelli –, und ich ging sofort ins Hotel und hörte sie mir zweimal hintereinander an.
Es sind in letzter Zeit aber auch überraschende Dinge passiert. Zum Beispiel gibt es da ein Pfandhaus in der Salter Street. Es heißt J.P’s Pawn, nach der Inhaberin, einer gewissen J.P. MacPherson, die über Pier 21 aus Schottland gekommen ist. Wofür J.P. steht, weiß ich nicht. Ich bin an ihrem Laden schon so oft vorbeigegangen, dass ich es gar nicht zählen könnte. Oft schaute ich durch das Fenster hinein und sah J.P. mit einem Kunden reden. Ich sah auch das Schild über ihrer Theke, auf dem stand: KEIN FEILSCHEN – KEINE AUSNAH-MEN! Soweit ich das von draußen sagen konnte, war sie Ende vierzig, ein wenig rundlich, hatte rotes Haar und einen festen, entschlossenen Blick. Aber ich hatte ihr Pfandhaus nie betreten, bis vor ungefähr einem Jahr. An einem frostigen Samstag Nachmittag war ich ungefähr zehn Schritte von ihrer Markise entfernt, die sich unter der Last des Schnees durchbog – sie hätte sie einrollen sollen –, als ich sie mit einer Schneeschaufel vor dem Laden sah. Plötzlich rutschte sie aus und stürzte hart auf den Bürgersteig. Ich trat zu ihr und fragte: »Kann ich Ihnen helfen?«
»Ich weiß nicht – können Sie?«, gab sie zurück.
Sie ließ sich von mir aufhelfen. Die Ärmel ihres Mantels waren voller Schneematsch. »Danke«, sagte sie. »Wie Sie sehen, haben wir eine Menge feine Waren im Schaufenster.« So schnell
war sie wieder beim Geschäft. Als J.P. MacPherson in ihren Laden zurückging, fielen meine Augen auf fünf Radios mitten im Schaufenster. Und ich muss zugeben, Marlais, dass ich – obwohl ich nicht mehr ganz jung bin – fast in Tränen ausbrach, auf dem Bürgersteig. Da war ein Emerson Snow White, ein Majestic mit einem Charlie-McCarthy-Aufkleber, ein RCA von der Expo in San Francisco, ein RCA Victor La Siesta und ein Stewart-Warner-Gerät mit einem Aufkleber der Dionne-Fünflinge.
Mir war natürlich klar, dass diese Geräte in großer Zahl hergestellt worden waren. Trotzdem ging ich hinein und sagte zu J.P. MacPherson: »Ich würde gern die Radios in der Auslage kaufen.«
»Obwohl Weihnachten noch so weit weg ist?«, fragte sie.
»Ich will sie nicht als Geschenke.«
»Ich kann sie Ihnen einzeln herausholen, damit Sie
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