Der Schlitzer
ihr Freund kam, denn gerade heute wollte sie so ungern allein bleiben.
Zunächst stellte ihr Gio den Drink auf den Tisch und dazu einen Grappa.
»Den Schnaps gibt es gratis, damit du mal wieder Farbe in dein Gesicht bekommst, Bella.«
»Grazie.«
Gio tänzelte zurück. »Wohl bekomm's, Bella.« Er zwinkerte ihr zu und kümmerte sich um die Espresso-Maschine, die als glänzendes Ungetüm hinter der Theke stand.
Shelly leerte das Glas zur Hälfte und mußte sich schütteln. Der Grappa war wie eine scharfe Säure durch ihre Kehle gejagt und verteilte sich nun im Magen. Sie trank einen Schluck Campari hinterher, hustete trotzdem und hörte plötzlich, wie Gio ihren Namen rief.
Erstaunt drehte sie sich um.
Der Wirt stand hinter der Theke. In einer Hand hielt er den Hörer des schwarzen Telefons hoch. »Der Anruf ist für dich, Shelly.« Er lächelte breit. »Ich glaube, es ist dein Freund.«
Shelly schnellte hoch und spürte gleichzeitig das drückende Gefühl im Magen. Es sagte ihr, daß irgend etwas nicht in Ordnung war. Sonst hätte Andrew nicht angerufen.
Fast hätte sie noch das Grappaglas umgerissen, so hastig bewegte sie sich von ihrem Platz weg. Shelly eilte hinter die Theke, übernahm von Gio den Hörer und meldete sich mit der Frage: »Bist du es, Andy?«
»Genau.«
»Wann kommst du?«
Seine Stimme bekam einen bedauerlichen Klang. »Es tut mir leid, Shelly, aber heute nicht.«
Sie schloß für einen Moment die Augen und spürte auch, daß ihre Knie nachgaben. »Heute nicht?« wiederholte sie. »Hast du denn keine Zeit, wenigstens auf einen Sprung bei Gio vorbeizuschauen?«
»Leider nicht.«
»Gerade heute hätte ich dich gebraucht«, flüsterte sie. Er sagte nichts. Die Bemerkung hatte ihn verlegen gemacht. Dafür stöhnte er auf, und dieses Geräusch erreichte auch Shellys Ohr. Danach sagte er: »Ich kann nicht zur dir kommen, und ich will dir auch den Grund sagen. Ich bin nicht mehr in London.«
»Was?«
»Ja, ich habe meine Reise schon heute antreten müssen. Ich rufe dich aus Liverpool an.«
Sie schluckte, preßte auch die Lippen zusammen, aber der Ärger wollte nicht weichen. »Warum hast du mir nichts gesagt?«
Jetzt lachte Bonner. »Das hatte ich gewollt, aber ich habe dich nicht erreicht.«
»Stimmt, ich war nicht zu Hause.«
»Und wo hast du dich herumgetrieben, wenn ich mal fragen darf?«
Shelly wollte ihm nicht die Wahrheit sagen. »In der Stadt, ich mußte mal raus. Ich hatte keine Ideen, der Auftrag läuft mir ja nicht weg. Vielleicht sieht es morgen anders aus.«
»Ein Stimmungstief? Bist du down?«
»Ja, so kann man es nennen«, sagte sie aufatmend.
»Du solltest auch nicht immer auf den Friedhof gehen«, hielt er ihr vor.
»Die Umgebung ist nichts für dich. Das ist was für alte Leute, finde ich.«
»Vielleicht hast du recht.«
»Jedenfalls sehe ich zu, daß ich so schnell wie möglich zurückkehre, Shelly.«
»Und wann wird das sein?«
»Moment mal, laß mich nachdenken. Wie ich die Sachlage hier überblicke, könnte ich, obwohl es Schwierigkeiten gegeben hat, übermorgen fertig sein.«
Sie erschrak. »So lange?«
»Ja, hier ist was schiefgelaufen. Warum regst du dich auf? Du hörst dich an, als könntest du nicht alleine bleiben. Als hättest du sogar Angst davor.«
Sie wollte die Wahrheit für sich behalten. »Nein, da irrst du dich, Andy. Es ist alles okay. Bis… bis…«, in der Kehle lag plötzlich ein Klumpen, und sie hatte plötzlich das Gefühl, Andy nicht mehr wiederzusehen und in einem tiefen Grab zu liegen. »Bis übermorgen also.«
Rasch legte Shelly den Hörer auf und lief an ihren Platz zurück. Unterwegs wischte sie noch schnell die Tränen aus den Augenwinkeln. Dabei hatte sie überhaupt nicht weinen wollen. Gio hatte sie beobachtet. Sein Gesicht zeigte Sorgenfalten. Er konnte es nicht leiden, wenn Shelly traurig war. Sie hatte wieder Platz genommen, leerte auch den Rest des Grappaglases und trank ihren Campari Orange. Dann zündete sie sich eine Zigarette an, blies den Rauch hastig aus und schaute durch das Fenster nach draußen, wo eine Windbö wieder von der alten Platane in der Nähe zahlreiche Blätter abgerissen hatte und sie in die Tiefe trudeln ließ.
Die nächste und die übernächste Nacht würde sie allein verbringen, und zwar ganz allein, allerdings umgarnt von düsteren Gedanken und schlimmen Angstgefühlen.
Shellys Meinung nach braute sich da etwas zusammen, das so unwiderruflich nahte wie die Dämmerung dieses sowieso schon
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