Der Schlitzer
Wissenschaftler. Privatgelehrter oder so ähnlich. Er lebt in einem alten Haus, drei Straßen weiter, glaube ich. Jedenfalls habe ich von ihm gehört, als ich mal mit einer in seiner Nähe wohnenden Nachbarin sprach, die sich über Bauarbeiten an seinem Haus beschwert hatte. Er muß sich einen Keller gebaut haben, ziemlich tief in der Erde. Da waren schon einige Arbeiten nötig.«
Bill hatte einen trockenen Mund bekommen, was auch bei seiner Frage zu hören war, denn sie klang richtig kratzig.
»Kannst du dich noch daran erinnern, wann das gewesen ist?«
»Das liegt noch nicht lange zurück. Die heißen Sommertage waren gerade vorbei.« Sie schaute noch einmal auf das Foto. »Klar, das ist er, denn als ich mit der Frau sprach, ist er an uns vorbeigegangen. Da hatte ich für einige Sekunden die Chance, ihn mir anzusehen. Das ist James Freeman.«
Bill war begeistert. »Mensch, Sheila, das ist ein Hammer. Das ist das absolut Wahre. Du bist eine Superschau.«
»Hör mit dem Quatsch auf!«
»Nein, ehrlich.«
Sie legte das Bild weg. »Okay, dann mach auch weiter. Seht zu, daß dieser Mensch verhaftet wird.«
Er nickte. »Noch fehlen die richtigen Beweise, doch ich denke, daß wir die auch bekommen.« Er stand auf, schüttelte noch immer den Kopf und ging zum Telefon, denn jetzt mußte erst einmal John Sinclair informiert werden…
***
Dämmerung, düstere Wolken, Schatten, die zwischen den Häusern und den Gärten klebten. Fallendes Laub, feuchte Straßen. Menschen, die froh waren, wenn sie die schützende Wärme ihrer Häuser und Wohnungen erreichten.
An manchen Stellen schwebten dünne Dunstschleier, die aussahen wie kalter Schleim. Der Himmel war dunkel geworden. Er ließ nicht einmal das Licht der Gestirne durch, und die Welt verschwamm in der trüben November-Trauer.
Mochte in der Londoner City trotz allem noch Betrieb herrschen, in den Vororten war längst die Ruhe des Abends eingekehrt. Kaum jemand hielt sich außerhalb seiner Wohnung auf. Die Gärten waren leer, die Sitzmöbel längst wieder zurück in die Keller der Häuser gestellt worden, und in den leeren Pools lagen die fauligen Blätter, die so manchen Mäusekadaver bedeckten.
Die Natur stand vor dem Aus, die Menschen reagierten ähnlich, und das genau war die Zeit des Schattens.
Niemand sah ihn, niemand erwartete ihn, und so konnte er durch die stillen Straßen gleiten, ohne daß ein Laut zu hören war. Wer genau hingeschaut hatte, der hätte ihn auch sehen können, aber wer tat so etwas schon? Es gab kaum einen Menschen, der am Fenster stand und nach draußen schaute, so blieb der Schatten unentdeckt. Lautlos bewegte er sich weiter.
Er glitt über das feuchte Pflaster, wirkte kompakt und trotzdem feinstofflich. Er war so etwas wie ein Zwischenstück, das weder zu der einen noch zur anderen Welt gehörte.
Aber er war da.
Und er war bewaffnet.
Denn in seiner rechten Hand glänzte eine Spitze — das Mordmesser…
***
Shelly Wagner war in ihre Wohnung zurückgekehrt und mußte sich eingestehen, daß ihre Angst zugenommen hatte. Diese Welt, die ihr eigentlich eine gewisse Sicherheit geben sollte, war nicht mehr das, was sie von ihr erwartet hatte. Sie war keine Insel der Geborgenheit, sondern ein Eiland der Furcht.
In der schmalen Diele war sie für einige Augenblicke stehengeblieben und hatte tief durchgeatmet. Sie hatte in die Wohnung hineingehorcht, nicht geschaut, dazu war es noch zu dunkel, und erst als sie sicher sein konnte, kein fremdes Geräusch zu hören, da hatte sie es gewagt, nach dem Schalter zu tasten und Licht zu machen.
Shelly liebt das Licht. Durch Dimmer an den Schaltern konnte sie es in verschiedenen Stufen und Variationen genießen. Auch jetzt strahlte es nicht so hell, daß es geblendet hätte. Wie ein weicher Schleier verteilte es sich im Flur und kroch an den Wänden entlang. Der Teppich dämpfte ihre Schritte. Sie glitt voran auf die zur Hälfte geöffnete Tür ihres Arbeitszimmers, das wie ein Atelier eingerichtet worden war. Auch hier machte sie Licht.
Eine helle Welt öffnete sich ihr. Das große Fenster nahm praktisch eine Wandseite ein. Dahinter lag der Garten, im Sommer oft lebhaft und bunt, jetzt still und tot, und Shelly kam sich vor wie auf dem Präsentierteller, sie spürte auch das Frösteln auf ihrem Rücken, und sie betrat vorsichtig wie eine Fremde ihr eigenes Arbeitszimmer.
Neben dem Zeichenbrett blieb sie stehen. Sie hatte es günstig aufgestellt, damit tagsüber genügend Licht durch das große
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