Der Schlüssel zu Rebecca
Sie schloß die Augen.
Die Bewegungen wurden automatisch: Ihre Gefühle schoben sich in den Vordergrund. Sie spürte, wie ihre Brüste bebten, ihr Bauch sich wand und ihre Hüften zuckten, und es kam ihr vor, als wäre sie eine Marionette, als berührten all die lüsternen Männer im Publikum ihren Körper. Ihr Tanz hatte nichts Künstliches mehr an sich, nun tanzte sie für sich selbst. Sie folgte nicht einmal der Musik, die Musik folgte ihr. Sie genoß die Erregung, tanzte, bis sie am Rand der Ekstase war und wußte, daß sie nur noch zu springen brauchte, um zu fliegen. Sonja zögerte und breitete die Arme aus. Die Musik kam donnernd zum Höhepunkt. Sie stieß einen Schrei der Enttäuschung aus und fiel zurück, die Beine untergeschlagen, die Schenkel zum Publikum geöffnet, bis ihr Kopf auf die Bühne schlug. Dann gingen die Lichter aus.
So war es immer.
Während des Beifallssturms stand sie auf, überquerte die verdunkelte Bühne und verschwand in den Kulissen. Rasch näherte sie sich ihrer Garderobe, den Kopf gesenkt, ohne jemandem einen Blick zu schenken. Sie kam ohne die Worte, ohne das Lächeln der anderen aus. Niemand verstand sie, niemand wußte, was es für sie bedeutete, was sie jeden Abend beim Tanzen durchmachte.
Sonja zog ihre Schuhe und die durchsichtige Hose aus, legte den mit Flittern besetzten Büstenhalter ab und schlüpfte in eine Seidenrobe. Sie setzte sich vor den Spiegel, um ihr Make-up zu entfernen. Das tat sie immer sofort, da sie wußte, daß das Make-up der Haut schadete. Sie mußte ihren Körper pflegen. Ihr war aufgefallen, wie fleischig ihr Gesicht und ihre Kehle wieder wurden. Sie mußte damit aufhören, Pralinen zu essen. Das Alter, in dem Frauen dick zu werden beginnen, hatte sie längst hinter sich. Ihr Alter war ein Geheimnis, das ihr Publikum nicht erfahren durfte. Siewar fast genauso alt wie ihr Vater bei seinem Tode. Ihr Vater.
Er war ein großer, stolzer Mann gewesen, dessen Taten immer hinter seinen Hoffnungen zurückstanden. Sonja und ihre Eltern hatten zusammen in einem engen, harten Bett in einer Kairoer Mietwohnung geschlafen. Nie wieder hatte sie sich so sicher und warm gefühlt wie in jener Zeit. Sie hatte sich immer an den breiten Rücken ihres Vaters gekuschelt; noch heute konnte sie sich an seinen vertrauten Geruch erinnern. Dann, wenn sie schon hätte schlafen sollen, war da ein anderer Geruch gewesen, etwas, das sie auf unerklärliche Weise erregte. Ihre Mutter und ihr Vater, Seite an Seite liegend, begannen, sich in der Dunkelheit zu bewegen, und Sonja bewegte sich mit ihnen. Ein paarmal merkte ihre Mutter, was geschah. Dann verprügelte ihr Vater sie. Schließlich zwangen ihre Eltern sie, auf dem Boden zu schlafen. Nun konnte Sonja sie hören, aber ihr Vergnügen nicht teilen. Es schien so grausam. Sie machte ihre Mutter dafür verantwortlich. Ihr Vater war bestimmt bereit, das Bett mit ihr zu teilen; er hatte von Anfang an gewußt, was sie tat. Auf dem Boden liegend, frierend, ausgeschlossen, hatte sie versucht, zuzuhören und von weitem an der Lust teilzuhaben, doch es war ihr nicht gelungen. Nie wieder war es ihr gelungen, bis Alex Wolff kam ...
Sie hatte nie mit Wolff über das enge Bett in der Mietwohnung gesprochen, aber irgendwie verstand er sie. Er hatte einen Instinkt für die geheimen Bedürfnisse. Er und das Mädchen Fawzi hatten die Szene ihrer Kindheit für Sonja wiedererschaffen, und es war sehr schön gewesen.
Sonja wußte, daß er es nicht aus Liebe tat. Er hatte nie etwas anderes im Sinn, als Menschen auszunutzen. Nun wollte er sie ausnutzen, um bei den Briten zu spionieren. Sie wäre beinahe zu allem bereit gewesen, um den Briten zu schaden außer mit ihnen ins Bett zu gehen.
Jemand klopfte an ihre Garderobentür. Sie rief: »Herein.«
Einer der Kellner brachte ihr einen Zettel. Sie entließ den Jungen mit einem Nicken und entfaltete das Stück Papier. Darauf stand einfach: »Tisch 41. Alex.«
Sie zerknüllte den Zettel und ließ ihn auf den Boden fallen. Er hatte also einen der Offiziere gefunden. Es hatte nicht lange gedauert. Sein Instinkt für die Schwächen anderer war ihm auch diesmal nützlich gewesen.
Sonja durchschaute ihn, weil sie ihm ähnelte. Auch sie nutzte die Menschen aus, wenn auch weniger geschickt. Sie nutzte sogar ihn aus. Er hatte Stil, Geschmack, hochgestellte Freunde und Geld; und eines Tages würde er sie mit nach Berlin nehmen. In Ägypten ein Star zu sein, war etwas anderes, als in Europa bewundert zu werden.
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