Der Schmerzsammler: Thriller (German Edition)
überhaupt nichts aus, in ihn verliebt zu sein.
»Das ist das Problem«, sagte Günther. »Psychologisch gesehen wissen wir es, aber das nützt uns wenig. Er will absolute Kontrolle, Macht und Aufmerksamkeit. Nur wie er das ausgestalten wird, das wissen wir nicht. Es kann sein, dass er von seinem Fuchsbau aus einfach genießt, dass er jetzt ein Medienstar ist. Dass er erst wieder zuschlägt, wenn das Medieninteressewieder nachlässt. Es kann sein, dass es ein Finale gibt. Es kann sein, dass er schon wieder jemanden in seiner Gewalt hat.«
Fran legte eine Hand auf Albis. »Wir wissen nur, dass seine Gewalt eskaliert, dass es also wahrscheinlich ist, dass er immer mehr Opfer braucht, um sich abzureagieren, dass er womöglich in Konkurrenz tritt mit bekannten Massenmördern und Serienkillern. Per Definition ist er jetzt beides: Er hat mindestens drei Personen, wahrscheinlich fünf, wenn wir Friedel Frenzen und«, Fran zeigte auf Albi, »Anastasia Stanowski dazunehmen, ermordet. Mit erkennbarer Handschrift, auch wenn Anastasia Stanowski keine Strommarken trägt. Und heute hat er zwei Menschen auf einmal ermordet. Wenn wir nicht unverschämtes Glück gehabt hätten, wären es wesentlich mehr gewesen.«
Sie wateten knietief im Blut, und niemand wusste, was Kaldenbach als Nächstes tun würde, welches Ziel er als Nächstes ins Visier nehmen würde. Einen Kindergarten? Eine Schule? Wo und wie konnte man am besten möglichst viele Menschen auf einmal vernichten? Was wollte er mit dem Anschlag beweisen? Sie wussten es nicht.
Fran spürte Hass aufwallen und rief sich zur Ordnung. Sie durfte ihre professionelle Haltung nicht aufgeben, durfte Kaldenbach nicht nur als Täter sehen, sondern auch als Opfer, dem furchtbar mitgespielt worden war; die Art und Weise wie, erklärte verblüffend einfach, warum Kaldenbach die Rücken seiner Opfer verstümmelte.
Er selber trug furchtbare Narben auf seinem. Joseph Kaldenbach war Opfer einer christlichen Splittergruppe geworden, die die Bibel auf ihre Art interpretiert hatte: So wie Christus für die Sünden hatte büßen müssen, indem man ihm den Rücken mit der Peitsche blutig geschlagen hatte, so musste Kaldenbach für seine Verfehlungen büßen. Seine Großeltern peitschten ihnaus, wenn er ins Bett machte, wenn er nicht aufaß, wenn er keine Eins mit nach Hause brachte. Wunderbarerweise war es ein katholischer Pfarrer, der die Verbrechen der Großeltern aufdeckte und dafür sorgte, dass Kaldenbach in ein Heim kam. Doch für den Jungen war das keine Verbesserung. Seine Eltern ignorierten ihn nach wie vor, in den Ferien blieb er im Heim. Kaldenbach begann, Tiere zu quälen, er hatte seine ganz eigenen Methoden. Er weidete sich zum Entsetzen seiner Erzieher an den Schreien seiner Opfer. Wenn er genug hatte, tötete er sie schnell und schmerzlos. Sie schloss das psychologische Gutachten, das der Anstaltsleiter von ihm erstellt hatte.
»Fran?«
Sie schreckte aus ihren Gedanken hoch.
»Was?« Senior sah sie an. Sein Gesicht war eingefallen, verhärmt. »Es nimmt kein Ende. Wir haben Kaldenbachs Familie gefunden.«
Fran schloss die Augen. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
»Kaldenbach ist wirklich gut, aber wenn er geglaubt hat, dass die Explosion alles zu Staub zerbläst, dann hat er sich getäuscht«, sagte Senior mit belegter Stimme.
Fran hatte Senior noch nie sprachlos erlebt, und sie hatte noch nie gesehen, dass er mit den Tränen kämpfen musste.
»Sie waren im Keller, in Tiefkühltruhen. Zerlegt. Die Rücken mit Schnitten verstümmelt.« Senior schüttelte den Kopf.
Auge um Auge, Zahn um Zahn. Was man Kaldenbach angetan hatte, tat er seinen Opfern an.
Senior ließ sich auf einen Stuhl fallen und rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. »Ich bin wirklich zu alt für diese Scheiße«, murmelte er. »Ich mag nicht mehr.«
Fran setzte sich neben ihn, nahm ihn in den Arm und sagte nichts.
Niemand sagte etwas. Sie schwiegen eine Zeit lang, nur dasRauschen der Netzgeräte und Ventilatoren der Computer war zu hören.
»Ich glaube nicht, dass er den Sprengsatz falsch dosiert hat, Senior.«
»Du meinst, er wollte, dass wir sie finden?«
Fran nickte müde.
Vorsichtig streckte sich Senior, stand auf. »Ja, das könnte sein. Danke, Fran.« Er schaute sich um. »Wir müssen den Kerl kriegen. Und wenn wir ihn haben, müssen wir versuchen, professionell zu bleiben, so professionell, wie wir jetzt weitermachen. Es ist ein Albtraum, schlimmer als der Rhein-Ruhr-Ripper und die
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