Der Schmerzsammler: Thriller (German Edition)
Stoß, er taumelte nach hinten,wie ein gehetztes Wild rannte sie auf die Straße, der Schmerz verbrannte ihre Gebärmutter, sie rannte weiter, schrie und heulte wie ein Kind ohne Hoffnung auf Trost, sie trat gegen eine Mülltonne, rannte weiter, bis sie keinen Atem mehr hatte und keine Tränen und keinen Schmerz. Verdammt, so ging es nicht. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und schämte sich in Grund und Boden. Sie war ein Scheusal. Sie war eine Bestie. Sie hatte einen Menschen heimtückisch angegriffen, geschlagen, gefoltert. Sie war nicht besser als er, denn sie wollte sich rächen, sie wollte die Vergangenheit auslöschen, wollte die Erinnerung an ihr Kind auslöschen, das niemals geatmet hatte.
»Kann ich helfen?«
Die Stimme einer jungen Frau. Fran blickte auf. Die junge Frau lächelte, und Fran warf sich ihr in die Arme, schmiegte ihren Kopf an ihre Schulter, die Frau erwiderte die Umarmung, tätschelte ihr den Kopf und schwieg.
»Ich habe gerade jemanden geschlagen«, wimmerte Fran.
»Wen haben Sie geschlagen?«, fragte die Frau.
»Den Vater meines toten Kindes.«
»Ihr Kind ist tot? Das ist ja furchtbar.«
Fran nickte fast unmerklich. »Ich habe es verloren.« Schüttelfrost raste durch Frans Körper.
Die Frau hielt sie fester.
»Zuerst wollte ich das Baby nicht. Aber ich habe mich überreden lassen, und dann …« Ihre Worte gingen im Schluchzen unter.
Die Frau sagte nichts, sondern streichelte Fran immer noch mit der Hand über die Haare.
Das Schluchzen versickerte in Frans Kehle. »Im dritten Monat. Morgens. Mein ganzer Körper bestand nur aus Schmerz. Ich musste auf die Toilette, dann kam das ganze Blut, ich habe abgezogen …«
»… und da ist Ihr Kind weggespült worden.«
Frans Antwort war ein langgezogenes heulendes »Ja«.
Die Frau presste sie an sich und weinte nun ebenfalls. »Das ist so unendlich traurig«, sagte sie immer wieder, wie ein Gebet oder eine Beschwörung.
Irgendwann, Fran wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, versiegten ihre Tränen. Wie eine Ertrinkende schnappte sie nach Luft, sie machte sich vorsichtig frei und betrachtete die Frau, die jetzt ihr furchtbarstes Geheimnis kannte. Sie war jung, vielleicht achtzehn oder neunzehn Jahre alt, ihre Wimperntusche war mit den Tränen in Strömen über die Wangen gelaufen. Fran küsste sie auf die schwarzen Striemen.
»Danke, dass du für mich da warst.«
Die junge Frau lächelte. »Du hast keine Schuld«, sagte sie leise und ging weiter.
»Ich habe keine Schuld am Tod meines Babys«, sagte Fran tonlos, drehte sich um, fiel in einen langsamen Trab, lief bis zum Ehrenfeldgürtel, bestellte sich ein Taxi, weil keine Bahn mehr ging, und ließ sich nach Hause fahren. Sie fühlte sich erleichtert, so, als wäre eine schwere Grippe vorüber. So, als hätten sich in ihrem Kopf Dinge neu geordnet.
Vorsichtig tastete sie sich in ihren Erinnerungen zu dem Tag zurück, an dem sie ihr Baby verloren hatte. Es fühlte sich anders an. Nicht mehr so vernichtend, so endgültig. Sie atmete langsam und gleichmäßig.
Ja, sie hatte es abtreiben wollen. Als er sagte, sie solle es austragen und ihm geben, hatte sie nur gelacht, ihn nicht ernst genommen. Er hatte sie beschimpft und war ausgezogen.
Und dann hatte sie angefangen, ihr Baby zu lieben, wollte es mit jeder Faser ihres Körpers, das Leben in ihr war so unglaublich schön gewesen.
Ausgerastet war er, als sie ihm erzählt hatte, dass ihr Baby imAbort untergegangen war. Der Erzeuger, der nicht mit ihr zusammenleben wollte, der nur das Kind wollte, der sie beschuldigte, es vorsätzlich getötet zu haben. Der sie eine Mörderin nannte und ein neues Kind von ihr einforderte.
Aber sie war keine Gebärmaschine und keine Mörderin. Sie war nur ein Mensch, der nicht fähig gewesen war zu trauern. Sie hatte kein Grab angelegt. Sie hatte ihr Kind nicht verabschiedet, sie hatte es jeden Tag aufs Neue verloren, sie horchte in sich hinein. Es war noch nicht vorbei, aber es fühlte sich anders an.
Sie bezahlte den Taxifahrer, gab ihm ein üppiges Trinkgeld, wünschte ihm gute Fahrt. Der Schlüssel hakelte ein wenig im Schloss, da musste der Schlüsseldienst ran, dachte sie, wankte zu ihrem Bett, ließ sich darauf fallen und war im selben Moment eingeschlafen.
10. Sonntag
Erst nach dem zweiten Refrain von Like a Satellite wachte Fran so weit auf, dass ihr bewusst wurde, dass sie verschlafen hatte. Wie viel Uhr war es? Ihr Wecker zeigte zehn Uhr dreißig. Verdammt. Dann kam ihr ein
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