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Der Schmetterlingsbaum

Der Schmetterlingsbaum

Titel: Der Schmetterlingsbaum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Urquhart
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Frauen des Hauses Tische und Stühle und Eimer mit Essen hinaus, um die Männer nach vollbrachtem Werk zu stärken. Was die Arbeit mit Winden und Hebeln betraf, blieb mein Onkel ein wenig vage, aber von der Speisenfolge entwarf er ein anschauliches Bild: Gebratene Truthähne, Hühner und Enten gab es, Rüben und Kartoffeln und Kohl, vierundzwanzig Laibe frisch gebackenes Brot, dreißig Apfelkuchen und dreißig Krüge Apfelmost – einen pro Mann – aus den ersten Äpfeln der Farm. Es wurden viele protestantische Gebete gesprochen und viele protestantische Lieder gesungen, und es herrschte bei diesem Bankett einträchtige Kameradschaft. Die Scheune, die auf ihrem Fundament fest gemauert über den Tafelnden aufragte, sah aus, als hätte sie immer hier gestanden, »als wär sie hier ge wachsen«, sagte mein Onkel gern.
    Tags darauf füllten der Alte Urur und seine Söhne die Scheune mit Getreide und Stroh und führten die zwei betagten Pferde in ihren Stall. »Ist die Scheune gut gefüllt, danke Gott und denk an die Armen«, pflegte mein Onkel an dieser Stelle mit wissendem Spott zu sagen. Die Männer hängten das Geschirr der Pferde an die Wand und ritzten ihre Initialen in die Sparren. Die jüngeren Söhne sprangen aus unterschiedlicher Höhe ins frische Stroh, und die Katzen wurden aus dem Haus hergelockt, damit sie hier die Mäuse abschreckten. Die wenigen Geräte aus Eisen, die sie besaßen, ein paar Spaten, Heugabeln, ein Pflug, der bis dahin entweder im Freien oder in der Feuchtigkeit der alten Scheune vor sich hin gerostet war, wurden unter Dach und Fach gebracht. Trotz des extremen Protestantismus in der Familie wurde von den älteren Söhnen ein Tanz auf der Tenne geplant und vom Vater genehmigt, denn der hatte ein großes Interesse, dass seine Söhne ein Weib fänden und heirateten und, am allerwichtigsten, männliche Nachkommenschaft zeugten.
    Nun kommt das Wetter ins Spiel, wie anscheinend in jeder Geschichte über die Urure. Es folgten nämlich zwei Tage unerträglicher Hitze und »lähmender« Feuchtigkeit, und alle redeten immer nur davon, was für ein Glück es gewesen sei, dass man diese Hitze und Feuchtigkeit nicht schon bei der Scheunenverlegung habe erleben müssen. Und am Abend des vierten Tages, kurz vor Sonnenuntergang, kroch eine rötlich violette Wolke, anders als alles, was man je gesehen hatte, über den östlichen Horizont und hatte einen gewaltigen Sturm im Schlepptau. Der Alte Urur genoss nur einen kurzen Moment der Dankbarkeit für das Obdach seiner Scheune, dann flog das ganze Gebäude in die Luft, zerbarst und verschwand spurlos. Mit Wirbelstürmen kannte sich in der Gegend hier niemand aus, aber fast jeder hatte Gerüchte gehört, wie der Zorn Gottes sich äußere. Sie gingen die Liste ihrer Sünden durch und kamen zu der Einsicht, dass es die Sünde der Habgier sei, die Gottes Strafe über die Familie gebracht habe. Der Alte war allerdings bis ans Ende seiner Tage überzeugt, der wahre Grund der Zerstörung sei gewesen, dass er einen Tanz auf der Tenne erlaubt habe, und infolgedessen durfte keiner der nachfolgenden Butlers je auch nur die unschuldigste Tanzveranstaltung besuchen. Erst in der Generation meiner Mutter und meines Onkels wurde das Verbot aufgehoben. Aber in Gegenwart des Alten Ururs durfte nie mehr das Wort Tanz benutzt werden. Und er selbst, soweit man wusste, versagte sich vorsichtshalber von nun an jedes Begehren.
    Das eine der Pferde, die während des Unwetters in der Scheune gestanden hatten, wurde auf der Stelle erschlagen, das andere jedoch fand man am nächsten Morgen friedlich grasend auf der Weide eines Nachbarn, fünf Felder weiter, und zwischen diesem und seinem letzten bekannten Aufenthaltsort waren keine offenen Tore. Und das einzige Überbleibsel der Scheune, das im Besitz des Alten Urur verblieb, war ein einzelnes Brett, das krachend durch sein Küchenfenster geflogen war und bemerkenswerterweise seine eigenen, frisch eingeritzten Initialen trug. Dieses Brett lag fortan auf dem Dachboden; die Nachkommen des Alten müssen abergläubisch genug gewesen sein, um es aufzubewahren. Mein Onkel holte es eines Abends, nachdem er uns die Geschichte erzählt hatte, herunter und nagelte es über der Feuerstelle an die Wand. Er tat es ungeachtet der Proteste seiner Frau – wenn sich eine Idee dieser Art in ihm festgesetzt hatte, konnte nicht einmal sie ihn beeinflussen. Im Nachhinein denke ich, er wollte das alte Brett sicher aufwerten, ihm den Status einer Reliquie

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