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Der Schmetterlingsbaum

Der Schmetterlingsbaum

Titel: Der Schmetterlingsbaum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Urquhart
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Leiter und reckte und krümmte sich nach den Früchten, und nach einer Weile hakte er den gefüllten 13-Liter-Korb von seinem Brustgeschirr los und trug ihn hinunter zum Boden, wo ein leerer Korb wartete. Er war immer mehr Darsteller als Arbeiter. Seine Körperkraft und seine fließenden Bewegungen waren ein Wunder, und manchmal, wenn ich sicher war, dass er nichts von meiner Anwesenheit wusste, stand ich einfach da und sah ihm zu.
    Wir gingen jetzt nicht mehr so ungezwungen miteinander um wie in den vorhergehenden Sommern, und ich glaube noch immer, auch heute noch, dass wir beide keine Ahnung hatten, warum dem so war. Vorbei waren die langen Tage unverplanter Zeit und grenzenloser Freiheit zum Spielen, die wir als kleine Kinder genossen hatten. Unser Umgang miteinander war weniger frei, zugleich aber zog es uns auf unerklärliche Weise stärker zueinander hin. Teo sprach inzwischen ganz gut Englisch, und statt Spiele zu erfinden, führten wir jetzt scheue, zögernde Gespräche miteinander – über das Autofahren, das ich zu lernen begonnen hatte, oder über die Stadt, in der ich lebte. Von seiner Heimat oder seiner Schule hatte er mir bis dahin nichts erzählt; diese ferne andere Welt, in der er Herbst und Winter verbrachte, war für mich so unwirklich, dass meine Vorstellungskraft an ihr scheiterte, und wie gesagt – ich stellte ihm nie Fragen. Als ich einmal in die Stadt fuhr und ihn auf halbem Weg traf und mitnahm, erwähnte er seine Großeltern. Er deutete auf den Brief in seiner Hand und sagte, er schicke ihnen Geld, sie brauchten es. Einer von beiden sei krank – ich weiß nicht mehr, ob Großvater oder Großmutter. Auch bei dieser Gelegenheit stellte ich keine Fragen, obwohl ich irgendwie überrascht war, nicht von der Notlage, sondern von der Existenz weiterer Angehöriger. Bis dahin hatte seine Familie für mich aus zwei Personen bestanden, aus ihm und seiner Mutter.
    An diesem Abend war es Dolores, die ich sah, als ich aus dem Fenster schaute. Sie kam aus der Dunkelheit und ging die Barackenwand entlang, quer durch die Lichtvierecke bis zu Teos Fenster, an dem sie leise ein, zwei Mal anklopfte. Er schob die untere Hälfte des Fensters hoch, und sie redeten eine Weile miteinander. Gerade als mir von irgendwoher aus dem Dunkeln schwach eine Musik ans Ohr drang, verschwand Teo und tauchte Sekunden später an der Seite seiner Mutter wieder auf. Völlig reglos standen sie einander gegenüber, von Licht umrahmt. Ihre angespannte Körperhaltung ließ mich fürchten, sie könnten zu streiten anfangen, Dolores sei im Begriff, Teo für etwas zu bestrafen, oder er weigere sich, einer Bitte oder Anweisung von ihr zu gehorchen. Aber es war ganz anders – sie fingen auf einmal zu tanzen an, wie ich noch nie jemanden hatte tanzen sehen. Dolores umkreiste ihren Sohn, ihre Arme neigten sich ihm entgegen und bewegten sich um seinen Oberkörper und Kopf, wie um ihn zu fesseln. Dabei berührte sie ihn nie – es war, als zeichnete sie unsichtbare Kraftlinien um ihn, während er unbewegt dastand und die Choreografie dieses Tanzes zu kontrollieren schien.
    Kein Teenager, den ich kannte, hätte mit einem Elternteil tanzen wollen, vor allem nicht unter so merkwürdigen Umständen – allenfalls bei dem Tochter-Vater-Abend, wie er an meiner Privatschule veranstaltet wurde, oder auf einer Hochzeit, aber nicht allein und niemals freiwillig. Soweit ich wusste, tanzten Mütter und Söhne nie irgendwo miteinander, nicht mal an einer privaten Knabenschule. Darüber dachte ich kurz nach, und dann dachte ich daran, wie peinlich mir dieser eine Tochter-Vater-Abend gewesen war, den ich an meiner Schule erlebt hatte, wie ich mich schämte, weil ich eben keinen Vater hatte. Nicht, dass er mir fehlte – ich habe ja kaum eine Erinnerung an ihn; aber obwohl mein Onkel eigens gekommen war, um meinen Vater zu vertreten, hatte ich das Gefühl, dass sich die Nachricht von meinem Halbwaisentum wie ein Lauffeuer durch die Menge ausgebreitet hatte.
    Nun begann sich Teo aktiv am Tanz zu beteiligen, und ich begriff, dass die Bewegungen der beiden einem sich wiederholenden Muster folgten, dass sie die Schritte und Gesten sehr gut kannten, und sagte mir, dass sie vielleicht übten, um nicht zu verlernen, was sie konnten. Kaum hatte Teo zu tanzen begonnen, entfernte sich seine Mutter zwei förmliche Schritte von ihm und stand hoch erhobenen Hauptes, mit abgewandtem Gesicht seitlich zu ihm. Dann kam er plötzlich zum Stehen, und jetzt übernahm wieder

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