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Der Schmetterlingsbaum

Der Schmetterlingsbaum

Titel: Der Schmetterlingsbaum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Urquhart
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Eigentlich wollte ich überhaupt nichts suchen; weil wir ihre letzte Ruhestätte nicht kannten, fürchtete ich, wir könnten tatsächlich auf Nellies win zige Knoch en stoßen.
    Rückblickend frage ich mich, was es zu bedeuten hatte, dass mein Onkel so oft mit Friedhöfen und toten Kindern beschäftigt war. Alle Menschen und Dinge, von denen er erzählte, gab es nicht mehr, so wie alle Kinder irgendwann in die Vergangenheit entschwinden oder deshalb nicht mehr da sind, weil der Tod sie sich mitten in ihrer Kindheit geholt hat. Jetzt hat er selbst sein totes Kind. Nehmen seine Zellen, vorausgesetzt, sie sind noch lebendig, das Entsetzliche daran zur Kenntnis? Liebe, schöne Mandy. Wie Nellie ruhst du »in der Erde, die dich gebar, dem Land, das deine Wiege war«. Aber anders als Nellie bist du in fernem Land gestorben. Du dachtest, du hättest weder ein Anrecht auf die Liebe, die du gegeben hast, noch auf die Erde unter deinen Füßen. Fern von deinem stark veränderten Zuhause, desorientiert in einem Einsatz, wieder und wieder überrumpelt von körperlicher Liebe: Jede Facette deines Lebens war ein improvisierter Sprengkörper, und alle zusammen führten schließlich zu einer letzten katastrophalen Explosion.
    An diesem Frühlingstag, an dem ich das erste und vielleicht einzige Mal darauf wartete, dass unter mir ein militärischer Leichenzug auftauchte, entdeckte ich ein paar Monarchfalter. Sie flogen die Blüten der Seidenpflanzen am grasbewachsenen Böschungswall des Highways an. Das war ungewöhnlich. Es war Mitte Mai – um diese Zeit sollten sie auf dem Weg zum See sein, sich auf die Paarung vorbereiten, ihre Eier legen und sterben.

J etzt, wo ich darüber nachdenke, kommt es mir merkwürdig vor, dass für Hauptverkehrsstraßen manchmal ein Zielort namensgebend ist, unabhängig davon, in welcher Richtung man sich bewegt. Die Sanctuary Line zum Beispiel trägt diesen Namen immer, ob man zum Sanctuary Point will oder von ihm fort zur Stadt, zum Highway, in die restliche Welt hinaus – das ist, als zerrte man einen bekannten Ort hinter sich her immer tiefer hinein ins Unbekannte.
    In dem Sommer, in dem ich sechzehn war und für meine Fahrprüfung übte, fuhr ich so oft diese Straße entlang, dass ich jede Beule im Asphalt, jedes Schlagloch kannte. Das Auto, der Buick meiner Mutter, war hellgelb lackiert und hatte Schalensitze und eine Klimaanlage, die ihre gekühlte Luft durch zwei Düsen in den Innenraum blies. Ich fuhr aber lieber mit offenen Fenstern, so dass ich den Kies unter den Reifen knirschen hörte und den Fahrtwind im Haar am Hinterkopf spürte. Ich mochte es auch, wie dieser Wind sich immer wieder anders anhörte, manchmal, wenn ich an den Geißblatt- und Sumachbüschen vorbeifuhr, die stellenweise richtige Hecken am Straßenrand bildeten, klang er sogar wie eine Brandung.
    Wenn Sie an der ersten Kreuzung links abbiegen und nach Norden weiterfahren, fort von der Sanctuary Line, passieren Sie zwei kleinere Straßenkreuzungen und stoßen irgendwann auf die alte Talbot Road – King’s Highway 2, wie die Straße damals hieß. Biegen Sie dann nach Westen ab, krümmt sich der Straßenverlauf in Richtung Norden, überquert schließlich die Schnellstraße, von der ich vorhin sprach, und führt zu den landeinwärts gelegenen Ortschaften. Nach Norden durfte ich nicht fahren. Meine Mutter hatte einen Heidenrespekt vor diesen zwei Kreuzungen und ebenso vor der Polizei: Ich hätte sowieso nicht fahren dürfen, denn ich hatte noch keinen Führerschein. Sie erlaubte mir aber, nach Süden und dann nach Südosten zu fahren, wo die Straße eine Biegung macht und zu den Sandwegen und Sümpfen und Stränden des Schutzgebiets führt. Dieser Teil der Straße kommt mir noch immer wie eine Heimat vor – ich habe diese Gegend meine ganze Kindheit hindurch zu Fuß und mit dem Fahrrad erkundet und kannte sie so genau, dass ich ganze Aufsätze über die verschiedenen Körnungen von Kies, die von den Autos gefurchten festen Fahrrinnen, die feinen Staubränder auf den hier wachsenden Wildblumen und Gräsern hätte schreiben können. Ich hätte die unregelmäßigen Vierecke aus Maschendraht beschreiben können und die groben Zedernholzpfosten, an denen der Drahtzaun befestigt war. Auch die Tiere auf den Weiden waren mir vertraut – diese geduldigen Herden, die uns den Blick zuwandten, wenn wir Kinder vorbeigingen oder -fuhren und in den Transportkörben vorn am Lenker unserer Fahrräder Erdnussbuttersandwiches dabeihatten. Was

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