Der Schmetterlingsbaum
sie, als reichten sie einander das Kommando hin und her, ohne je den Kontakt zu verlieren oder die Kontrolle aufzugeben. Und auf einmal begann sie mit einem furiosen Solo, das sich hinzog, als wollte es nie mehr aufhören. In dieser Phase des Tanzes begann ich ein anderes Geräusch wahrzunehmen, unabhängig von der Musik; es klang wie ein hohes Kläffen, wie ein Kojote, der den Mond anbellt, oder ein Hund, der einen Fremden ankündigt. Dolores schien das Geräusch zu ignorieren, doch an Teos Körperhaltung merkte ich, dass es seine Konzentration gestört hatte. Ich glaube, Teo und ich begriffen wahrscheinlich im selben Moment, woher diese Laute kamen, denn kaum hatte ich in der Gestalt, die von der Fläche des Sees umrahmt vielleicht hundertfünfzig Meter entfernt stand, meinen Onkel erkannt, blickte ich wieder zu den Tanzenden zurück und sah, dass Teo verschwunden war. Seine Mutter tanzte noch. Von meinem Onkel kamen noch ein paar dieser seltsamen Maunzer, dann wandte er sich ab und ging mit den Händen in den Taschen zum Haus zurück, ganz lässig, als sei nichts Außergewöhnliches passiert. Und so war es ja vielleicht auch.
Heute denke ich, dass diese womöglich leicht spöttischen Laute Teo in die Flucht schlugen, dass sie irgendwie seine Stelle einnahmen: Mein zuschauender Onkel war in sein Revier eingebrochen, hatte sich zum Schattentanzpartner gemacht. Und war ich nicht ebenfalls ein Partner: eine stumme, ungesehene Zuschauerin hinter dem Fenster?
V om Point aus, der ihr den Namen gibt, führt die Sanctuary Line in nördlicher Richtung über die Middle Road, einen alten Indianerpfad, den seinerzeit der Landvermesser Mahon Burwell übernommen hat. Zehn Meilen weiter überquert sie den Highway, der die Städte und Gemeinden dieser Provinz miteinander verbindet. Auf diesem Highway fuhr ich vor ein paar Monaten, im späten Frühling, als die Schmetterlingswanderung begann, zu unserem Partnerschutzgebiet am Presqu’île Point am Ontariosee, und als ich Toronto hin ter mir hatte, wurde mir sehr deutlich bewusst, dass ich wieder auf der Straße der Helden unterwegs war. Wie verwirrend es war, in der entgegengesetzten Richtung diesen Abschnitt der Straße entlangzufahren – so verwirrend eigentlich, dass ich nahe daran war zu glauben, ich müsste nur weit genug fahren, dann könnte ich Mandys Tod ungeschehen machen und sie gesund und munter am Luftwaffenstützpunkt antreffen, wo sie grinsend auf der Rollbahn stand.
Während ich dahinfuhr, musste ich an die erste Straßenüberführung denken, die wir damals, als Mandys Leichnam nach Toronto gebracht wurde, passiert hatten: Die Mitglieder der örtlichen freiwilligen Feuerwehr und die wenigen traurigen alten Veteranen aus früheren Kriegen hatten sich mitsamt Dutzenden Zivilisten dort versammelt, um den Gefallenen ihre Achtung zu bezeugen. Auf sämtlichen Überführungen, unter denen wir in den langen schwarzen Wagen hindurchfuhren, standen Duplikate dieser spontan zusammengetretenen Ehrenwache, aber diese erste war irgendwie auch die anrührendste. Manche Menschen hielten Fahnen, und weil es ein windiger Tag war, flatterten die bunten Flaggen beinahe festlich vor dem klaren blauen Himmel. Die Veteranen, deren Medaillen in der Sonne funkelten, die Feuerwehrmänner, vereinzelte Polizisten darunter, salutierten, und wir im Fond dieser Nobelkarossen, die uns vom Luftstützpunkt fortbrachten, sahen es deutlich, weil die Polizisten und Feuerwehrleute in der hellen Nachmittagssonne auf ihren Fahrzeugen standen. Trotz des Grabens, den die Trauer zwischen mir und der Welt aufgerissen hatte, sah ich das alles mit einer gewissen Erleichterung, als hätte ich insgeheim gefürchtet, die spontanen Versammlungen, von denen wir gehört und die wir in den Fernsehnachrichten gesehen hatten, könnten dieses eine Mal ausbleiben, Mandys Tod könnte nicht zur Kenntnis genommen werden.
Diese Versammlungen sind ganz inoffiziell, das wissen Sie ja. Sie sind erst entstanden, als klar war, dass jeder gefallene Soldat nach der Heimholungszeremonie auf dem Luftstützpunkt Trenton diese Strecke entlanggefahren wurde. Ich weiß noch, wie Mandy einmal sagte, sie finde den Beschluss der Regierung, die Straße kraft amtlicher Beschilderung umzubenennen, ein bisschen lächerlich; in Afghanistan gebe es Straßen, für die das Wort Held weitaus angemessener sei. Und sie wunderte sich, weshalb die sonst meist üblichen Fanfaren fehlten, wenn die Soldaten der Friedenstruppen im Sarg nach Hause
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