Der Schmetterlingsbaum
gebracht wurden. Wegen ihrer Reaktion nahm ich mir damals vor, niemals selbst auf einer Überführung zu stehen und auf das Unglück anderer Leute hinunterzuschauen. Dass es mein eigenes Unglück wäre, das eines Tages von einer kleinen Betonbrücke aus flüchtig zur Kenntnis genommen würde, konnte ich mir schlicht nicht vorstellen.
Aber in dieser Woche, die ich im Presqu’île-Schutzgebiet verbrachte, fuhr ich einmal tatsächlich zu einer dieser Highway-Überführungen. Es war wieder ein Soldat umgekommen, und natürlich würden weitere folgen. Ich stand wartend dort oben und dachte, dass ich jetzt auch eine von denen war, die dastehen und warten, um einen kurzen Blick auf eine Tragödie zu werfen. Als der dunkle Konvoi unter mir hindurchfuhr, weinte ich wie die anderen Zivilisten, aber ich kann wirklich nicht sagen, ob ich um Mandy weinte oder um mich oder um den unbekannten jungen Menschen in dem langen sch warzen Wagen.
Vor ein paar Wochen, nachdem ich gut eine Stunde mit den Gedichten von Wallace Stevens gerungen hatte, stieß ich auf ein Buch, das ich viele Jahre nicht zu Gesicht bekommen hatte, nicht mehr, seitdem die Menschen, die ich bei mir immer noch »die Erwachsenen« nenne – mein Onkel, meine Mutter, meine Tante –, ganz hier lebten und das Heft in der Hand hatten. Der Band, nach viktorianischer Art gestaltet – der Umschlag mit Goldprägung und ineinander verschlungenen Blumen auf hellgrünem Grund – , ist eine Sammlung von Gedichten, die der baptistische Geistliche der Stadt, Reverend Thomas Sanderson, in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts verfasste und wahrscheinlich auf eigene Kosten drucken ließ. Als Kinder liebten wir dieses Buch. Wir fanden darin Gedichte über Orte, die wir, einfach weil wir sie erkannten, als unseren Besitz ansahen – den kleinen Park in der Stadt mit seinen Kanonen aus dem Krieg von 1812 , die damals ganz neu erbaute Baptistenkirche, die jetzt ein Antiquitätengeschäft ist, die Stadt selbst, den See in der Nähe. Wir erkannten auch Anlässe: den Nationalfeiertag Dominion Day, den Victoria Day beziehungsweise, wie der Reverend ihn nannte, denn er war ja ihr Zeitgenosse, den »Geburtstag der Königin«. Aber das Spannendste war ein Gedicht über die Besuche, die der Reverend an Sommernachmittagen vor mehr als einem ganzen Jahrhundert unserem Teil des Seeufers abgestattet hatte. »Wir schwelgen in der Fülle des Sommers« begann das Gedicht, das den schlichten Titel »Butler Farm« trug. So begannen seine Verse oft: Er war kein begnadeter Dichter. »Die Zunge, die Klippe, die Insel«, fuhr er fort, »sind lieblicher mit jedem Tag. Leuchtturm, Schoner, die Frachter der Bucht, so weit das Auge zu seh’n vermag.« Nichts bestätigte unseren Platz auf Erden nachdrücklicher als dieses eine ansonsten nicht weiter bemerkenswerte Gedicht.
Aber die Erwachsenen lasen die gesammelten Gedichte von Reverend Sanderson mit beträchtlicher Erheiterung. Manchmal, wenn mein anderer Onkel mit seiner Frau zu Besuch war und sie getrunken hatten, drohte mein Onkel oft, »Dominion Day 1878«, »Dominion Day 1879« und »Dominion Day 1880« in Folge aufzusagen, falls die Runde jetzt nicht endlich lebhafter würde, indem beispielsweise über Politik diskutiert würde. »›Unser weites Land‹«, begann er drohend, während ringsum alle in gespieltem Grauen zurückschreckten.
Uns Kindern aber las er manchmal die »Nellie«-Serie vor. Nellie war die fünfjährige Tochter des Reverends, die an irgendeiner Infektion gestorben war und, um des Reverends Worte zu gebrauchen, »an den Gestaden des Eriesees« ruhte. Die Erwachsenen hatten den baptistischen Friedhof gründlich abgesucht, aber keiner hatte je Nellies Grab entdeckt, weshalb die Familie zu dem Schluss gelangte, es müsse noch irgendwo anders, näher am See, einen geheimen Friedhof geben. An den Tagen, an denen wir Kinder zu sehr im Weg waren, wurden wir losgeschickt und sollten das Grab der kleinen Nellie suchen. Der Witz daran entging mir, bis ich eine Jugendliche war, aber die Jungs waren alle entgegenkommend und lachten pflichtschuldig, bevor wir uns aufmachten, um entlang der Küste und in Wald und Feld nach umgestürzten Grabsteinen im hohen Gras oder im Dickicht der Wälder zu suchen. Mit »alle« meine ich: Teo ausgenommen. Teo lachte nicht; er blickte nur verwirrt drein. Bei solchen Ausflügen ließen wir beide uns gern zurückfallen und blieben stehen, um uns nach Bovisten oder Schmetterlingspuppen umzusehen.
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