Der Schmetterlingsbaum
kennenzulernen, zu dem er keinen Zugang hatte: dem Schmerz, der Seelenqual. Unmöglich, sagte sie, als ich das einmal ansprach. Sein Leben sei verworren und kompliziert. Dazu kämen Militärstrategien, Truppenbewegungen, die Überwachung des Feinds, Presseerklärungen. Das verschlinge seine gesamte mentale und einen großen Teil seiner körperlichen Energie. Den Rest horte er für seine ausgedehnte Familie, die ihm, obwohl meistens weit fort, ihrerseits ihre Probleme und Triumphe auftische.
Einmal sagte er zu ihr, sie sei seine Oase – eine passende Metapher für einen Wüstenkrieger, den ich in Gedanken immer nur Mister Military nannte. Aber was kann eine Oase anderes tun, als still und stumm an Ort und Stelle auszuharren und den Himmel zu spiegeln, bis sie dann und wann dem Einen, der kommt, um sich an ihr zu laben, als Spiegel dienen muss; was kann sie anderes tun, als seinen Durst zu stillen und ihm Schatten zu spenden? Ich war überzeugt, dass sie von ihm geblendet und verfinstert und dann alleingelassen wurde im grellen Wüstenlicht, das alles mit unbarmherziger Schärfe ausleuchtet. Ein in der Sonne blitzendes Messer, ein Gewehr in ihren Händen. Und die Verantwortung für ihren Zug überheblicher und verängstigter junger Männer lag ebenfalls in ihren Händen. Wie kam sie mit dem allen zurecht, wenn sie so vollständig von ihrer Liebe in Anspruch genommen war? Aus ihren Erzählungen bekam ich den Eindruck, dass er sie wegwarf wie einen Lumpen, und zwar regelmäßig, immer wieder. Aber wenn er zu ihr zurückkam – und soweit ich begriffen habe, konnte sie nie sicher sein, dass er zurückkäme – , war er vollkommen da, ganz präsent, als hätte er sie niemals abgelegt. Sie wusste, dass er diese Art der Zuwendung überallhin mitnehmen konnte, wohin immer er ging: in Freundschaften und auf Kriegsschauplätze. Es besaß eine angespannte Wachsamkeit, sagte sie, die für sein Überleben ebenso notwendig war wie für sein Vorankommen. Sie wollte ihre eigene Wachsamkeit üben und ausbauen, doch allein die Tatsache, dass es ihn gab, zerschlug ihre Konzentration. Im Geist war sie immer bei ihm, spielte sich Zärtlichkeiten, Liebesnächte, Auseinandersetzungen, Zusammenkünfte und Abschiede immer wieder vor, während die Welt ringsum, von ihr praktisch unbemerkt, in die Luft flog. Nicht die beste Überlebensstrategie.
»Sag mir wenigstens, wie er heißt«, verlangte ich aufgebracht bei unseren Telefongesprächen mitten am Tag oder in der Nacht oder hier im Haus, in dem Zimmer, das wir uns seit unserer Kindheit geteilt hatten.
Das könne sie nicht, sagte sie. Warum nicht, wollte ich wissen, und sie antwortete, sie habe es versprochen. Daraus schloss ich, dass er verheiratet sei, brachte es aber nicht über mich, sie zu fragen.
Eines verriet sie mir aber, nämlich dass sie selten zusammen waren, und wenn, dann nur in einem abgedunkelten Raum. Die Intimität war so intensiv, dass sie sich nur innerhalb der vier Wände eines gemieteten und vollkommen neutralen Zimmers entfalten konnte. Es gab Dutzende solcher Treffen in verschiedenen Städten des Nahen Ostens, immer in amerikanischen Hotelketten mit lächerlich ähnlichen Zimmern wie in den amerikanischen Hotelketten, die sie aufgesucht hatten, als sie noch auf dem Stützpunkt der Kanadischen Streitkräfte in Petawawa stationiert war, wo sie einander kennengelernt hatten. Daran hat sich nie etwas geändert, sagte sie, und zu meiner Verwunderung empfand sie das als etwas Positives. Vor dem Fenster konnte eine uralte Stadt unter Luftbombardement sein oder eine verschneite Wiese im friedlichen Ontario, aber es war doch immer das gleiche Zimmer, dieselbe Beziehung. Sie entwickelte sich nicht weiter, aber auch nicht zurück, so dass jedes ihrer Treffen ebenso gut das vorhergehende oder das folgende hätte sein können. Außer, vermutete ich, wenn sie mehr von ihm forderte – dann war es wohl keine schöne Begegnung. Wahrscheinlich verschloss er sich dann vollständig. Dieser Mann, der sie noch Minuten zuvor in den Armen gehalten und zärtlichst berührt hatte, packte dann seine Sachen und verließ den Raum, als wäre nichts zwischen ihnen. Sie erzählte, wie er, mit einer einzigen bedeutungsvollen Ausnahme, stets dafür gesorgt hatte, dass ihre Urlaube sich nicht überschnitten, damit nur ja keine Fragen kämen, ob er und Mandy womöglich eine gemeinsame Mahlzeit oder gar zwei Tage miteinander hätten. Er glaubte nicht an Liebesbeweise. Du bist doch kein Kind, sagte er
Weitere Kostenlose Bücher