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Der Schnee war schmutzig

Der Schnee war schmutzig

Titel: Der Schnee war schmutzig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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gewiß ein Stück heraus. Durch eine offene Tür sieht man Sissys Zimmer. Daß es ihr Zimmer ist, zeigt ihre Verwirrung, als sie merkt, daß er hineinspäht.
    Auch hier gibt es ein Guckfenster wie bei ihnen, aber man hat es mit Pappe vernagelt, weil man sonst in die Wohnung der Nachbarn sehen könnte.
    Sie stehen beide immer noch. Sie hat ihn nicht aufgefordert, sich zu setzen. Um sich Haltung zu geben, hält er ihr sein Zigarettenetui hin.
    »Danke, ich rauche nicht.«
    »Weil Sie es nicht mögen?«
    Auf dem Tisch liegt eine Pfeife, und daneben steht eine Blechdose mit Stummeln. Bildet sie sich etwa ein, daß er nicht begriffen hat?
    »Probieren Sie mal eine. Sie sind sehr milde.«
    »Ich weiß.«
    Sie hat die ausländische Marke erkannt. Diese Zigaretten sind mehr wert als Banknoten, und jeder weiß, was eine kostet.
    Sie zuckt zusammen, denn es hat eben an die Tür geklopft. Frank hat den gleichen Gedanken gehabt wie sie. Ob Holst aus irgendeinem Grund, vielleicht, weil er den jungen Mann an der Straßenbahnhaltestelle gesehen hat, zurückgekommen ist? »Entschuldigen Sie, Fräulein Holst …«
    Es ist ein alter Mann, dem Frank schon im Treppenhaus begegnet ist. Ein Nachbar, gerade der, in dessen Wohnung das Guckfenster geht. Er gibt sich keine Mühe, sich zu verstellen, und betrachtet Frank wie den Schmutz, den eine Katze auf dem Fußboden hinterlassen hat. Dagegen zeigt er sich Sissy gegenüber sehr sanft und väterlich.
    »Ich wollte Sie fragen, ob Sie vielleicht ein Streichholz haben?«
    »Ja, natürlich, Herr Wimmer.«
    Aber er geht nicht. Er bleibt und hält die Hände über den Ofen, in dem noch ein schwaches Feuer brennt. Dann sagt er in gleichgültigem Ton: »Es wird bald wieder schneien.«
    »Wahrscheinlich.«
    »Es gibt Leute, denen der Frost nichts ausmacht.«
    Das gilt Frank, aber Sissy stellt sich mit einem Augenzwinkern auf seine Seite.
    Herr Wimmer mag fünfundsechzig Jahre alt sein, und seine Wangen sind mit harten weißen Bartstoppeln bedeckt.
    »Es wird bestimmt noch vor Ende der Woche wieder schneien«, wiederholt er. Er wartet sichtlich darauf, daß Frank geht.
    Da wagt Frank etwas Kühnes.
    »Entschuldigen Sie, Herr Wimmer …«
    Eben erst hatte er den Namen des alten Mannes noch nicht gewußt, der ihn jetzt erstaunt und empört ansieht.
    »Fräulein Holst und ich wollten gerade ausgehen.«
    Herr Wimmer sieht das junge Mädchen an. Er ist sicher, daß sie es abstreiten wird.
    »Es stimmt«, sagt sie und nimmt ihren Mantel vom Haken. »Wir haben eine Besorgung zu machen.«
    Dies ist einer ihrer schönsten Augenblicke gewesen. Sie hätten beide fast laut herausgelacht. Sie waren wie Kinder, denen ein Streich gelungen ist – und obwohl Herr Wimmer keine Krawatte trägt und man über seinem Adamsapfel seinen Kragenknopf sieht, wirkt er wie ein pensionierter Lehrer.
    Sissy hat den Ofen abgestellt. Dann ist sie zurückgekommen, um ihre Handschuhe zu holen. Der Alte rührt sich immer noch nicht vom Fleck. Man hätte annehmen können, er wolle sich aus Protest in der Wohnung einschließen lassen. Er hat ihnen nachgespäht, als sie die Treppe hinuntergingen, und ohne Frage hat er die ganze Jugendlichkeit ihrer Schritte gespürt.
    »Ob er es meinem Vater sagt?«
    »Der wird nichts sagen.«
    »Ich weiß, daß Papa ihn nicht mag, aber …«
    »Die Leute sagen nie etwas.«
    Er behauptet es so selbstsicher, weil es stimmt, weil er es aus Erfahrung weiß. Hat Holst ihn angezeigt? Er würde gern mit Sissy darüber sprechen, ihr den Revolver zeigen, den er immer noch in seiner Tasche hat. Er setzt mit dieser Waffe, die er da bei sich trägt, sein Leben aufs Spiel. Aber sie ahnt es nicht. Auf der Straße fragt sie: »Was wollen wir machen?«
    Das war ein wirklich außergewöhnlicher Moment, etwas Unerwartetes: als er dem alten Mann geantwortet und sie ihren Mantel genommen hat; als sie an dem traurigen Alten vorbei zur Treppe gegangen sind, als gingen sie zum Tanzen.
    Fast hätte sie ihn, ganz natürlich, untergehakt. Aber jetzt auf der Straße ist schon alles wieder aus.
    Merkt Sissy das? Sie wissen nicht, in welcher Richtung sie gehen sollen. Glücklicherweise hat Frank vom Kino gesprochen:
    »Im Lido läuft ein guter Film.«
    Das Kino befindet sich jenseits der Brücken. Er hat keine Lust, die Straßenbahn zu nehmen. Nicht ihres Vaters wegen, sondern weil er nicht wüßte, wie er sich verhalten sollte. Sie müssen am alten Bassin vorbei. Auf der Brücke ist der Wind so stark, daß sie nicht sprechen

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