Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schnee war schmutzig

Der Schnee war schmutzig

Titel: Der Schnee war schmutzig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
Vom Netzwerk:
können, und er wagt nicht, Sissy unterzufassen, obwohl sie instinktiv dicht neben ihm geht.
    »Wir gehen nie ins Kino.«
    »Warum nicht?«
    Er bedauert die Frage. Es ist ihnen natürlich zu teuer, und an Geld zu denken, ist ihm plötzlich peinlich. Zum Beispiel würde er sie gern in eine Konditorei einladen. Es gibt noch einige, wo man alles bekommen kann, was man begehrt, wenn man dort bekannt ist. Er kennt sogar zwei Lokale, wo man tanzen kann, und sicherlich würde Sissy gern tanzen.
    Sie hat gewiß noch nie getanzt. Sie ist noch zu jung. Vor dem Krieg war sie noch ein kleines Mädchen. Sie hat nie Likör oder Aperitif getrunken.
    Er ist jetzt der Verlegene. In der Oberstadt schiebt er sie in die Halle des Lido, die hell erleuchtet ist.
    »Zwei Logenplätze.«
    Er erschrickt über seine Kühnheit. Er ist schon oft hier gewesen. Seine Freunde gehen auch ins Lido. Wenn man ein Mädchen bei sich hat, nimmt man eine Loge im Lido. Das weiß jeder. Die Logen sind sehr dunkel und die Trennwände so hoch, daß man so ziemlich alles machen kann, was man will. Auf diese Weise hat er mehrmals Lotte Mädchen besorgt.
    »Hast du Arbeit?«
    »Die Werkstatt hat in der vorigen Woche geschlossen.«
    »Möchtest du gern Geld verdienen?«
    Sissy folgt ihm wie die anderen. Es schmeichelt ihr, in dem gut beheizten Kino von einer Platzanweiserin in Uniform, die eine kleine rote Mütze trägt, auf der in goldenen Buchstaben das Wort Lido steht, in eine Loge geleitet zu werden.
    Aber gerade das versetzt ihn wieder in eine düstere Stimmung: sie ist genau wie die anderen. Sie benimmt sich genau wie die anderen. Im Dunkeln wendet sie sich ihm zu und lächelt ihn an, weil sie glücklich ist, hier zu sein, weil sie ihm dafür dankbar ist. Sie sagt nichts und zuckt kaum zusammen, als er seinen Arm auf die Lehne ihres Sessels legt.
    Gleich wird er ihn um ihre Schultern legen. Sie hat magere Schultern. Sie wartet darauf, daß er sie küßt. Er weiß das wohl, aber er tut es fast widerwillig. Sie kann nicht küssen. Sie hält den Mund dabei halb offen. Es ist ein feuchter, ein wenig säuerlicher Kuß. Gleichzeitig drückt sie seine Hand ganz fest und läßt sie nicht wieder los.
    Sie sind sich alle gleich. Sie glaubt ihm. Sie bittet ihn, still zu sein, als er ihr etwas ins Ohr flüstert, weil sie versucht, dem Film zu folgen, dessen Anfang sie nicht gesehen haben. Bisweilen krampfen sich ihre Finger vor Erregung über eine Szene auf der Leinwand zusammen.
    »Sissy …«
    »Ja.«
    »Sieh mal.«
    »In meiner Hand …«
    Der Revolver in seiner Hand schimmert im Halbdunkel. Es läuft ihr kalt über den Rücken, und sie blickt um sich.
    »Vorsicht!«
    Es hat Eindruck auf sie gemacht, aber sie ist nicht einmal so sehr erstaunt.
    »Ist er geladen?«
    »Ich nehme an.«
    »Haben Sie ihn schon gebraucht?«
    Er zögert. Er ist ehrlich.
    »Noch nicht.«
    Dann benutzt er sofort die Gelegenheit, um ihr die Hand aufs Knie zu legen und ihren Rock unmerklich hochzuschieben.
    Sie läßt es geschehen wie die anderen. Und da packt ihn ein dumpfer Zorn auf sie, auf sich, auf Holst. Ja, auch auf Holst, wenn es ihm auch schwerfallen würde zu sagen, warum.
    »Frank.«
    Sie hat seinen Namen ausgesprochen. Sie kannte ihn also schon. Sie wiederholt ihn absichtlich, während sie versucht, seine Hand zurückzudrängen.
    Aber Franks liebevolle Gefühle sind plötzlich erstorben. Er ist wütend. Bilder tanzen vor seinen Augen, riesige Köpfe erscheinen auf der Leinwand und verschwinden, er hört Stimmen und Musik. Was er wissen will und was er wissen wird, wenn sie sich auch noch so stark wehrt, ist, ob sie noch unberührt ist. Es ist das einzige, woran er sich noch klammern kann.
    Das zwingt ihn, sie zu küssen, und jedesmal, wenn er sie küßt, läßt sie ihn gewähren. Seine Hand tastet sich auf dem nackten Schenkel weiter. Er berührt den Strumpfhalter, und sie wehrt sich auch jetzt noch kaum.
    Er wird es wissen. Denn wenn sie nicht einmal mehr Jungfrau ist, wird Holst alles verlieren, wird ein groteskes Wesen werden. Aber er selber auch. Wie ist er nur darauf gekommen, sich mit diesen beiden zu befassen?
    Ihre Haut ist gewiß schneeweiß wie die Minnas. Eine Hühnerhaut, wie Lotte sagt. Hühnerschenkel. Ob sich Minna jetzt gerade nackt in dem Zimmer mit einem Herrn vergnügt, den sie nicht kennt? Jetzt wird es warm. Er tastet sich weiter. Sie hat nicht die Kraft, sich die ganze Zeit zu versteifen, und als sie an Terrain verliert, drücken ihre Finger sanft die seinen,

Weitere Kostenlose Bücher