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Der Schnee war schmutzig

Der Schnee war schmutzig

Titel: Der Schnee war schmutzig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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wie bittend. Sie flüstert ihm ins Ohr: »Frank …«
    Und in der Art, wie sie seinen Namen ausspricht, verrät sie, daß sie sich geschlagen gibt.
    Er hatte mindestens mit acht Tagen gerechnet; aber jetzt war er schon da, es war nur noch eine Frage von Zentimetern, die Haut wurde weicher, wärmer, ganz feucht.
    Er hielt jäh inne, als er merkte, daß sie wirklich noch Jungfrau war. Aber er hatte kein Mitleid. Er war nicht erregt. Er wußte plötzlich, daß nicht sie ihn interessierte, sondern ihr Vater, und es war lächerlich, an Holst zu denken, als seine Hand ihre Scham berührte.
    »Du hast mir weh getan.«
    »Verzeih«, sagte er höflich.
    Und er wurde wieder korrekt, während im Dunkeln Sissys Gesicht Enttäuschung zu verraten schien. Wenn er es hätte sehen können, wäre alles viel schlimmer gewesen. Wenn er korrekt wurde, wurde er furchtbar, so ruhig, so kalt, so abwesend, daß man nicht mehr wußte, wie man ihn nehmen sollte. Sogar Lotte fürchtete sich dann vor ihm.
    »Aber werde doch wütend«, rief sie ihm dann zu. »Schrei, schlage um dich, tu etwas, irgend etwas!«
    Arme Sissy, sie interessierte ihn nicht mehr. Oft hatte er in der letzten Zeit, wenn er an sie dachte, Paare vor sich gesehen, die eng aneinandergeschmiegt auf der Straße gehen und in dunklen Winkeln heiße, nicht endenwollende Küsse tauschen. Er hatte ehrlich geglaubt, daß das erregend sein könnte. Eine Einzelheit unter anderem hatte ihn gelockt: der Hauch, der aus dem Mund zweier Liebender kommt, wenn sich im Schein einer Laterne ihre Lippen zu einem Kuß nähern.
    »Wollen wir etwas essen gehen?«
    Ihr blieb nichts mehr weiter übrig, als ihm zu folgen. Übrigens würde sie nur allzu glücklich sein, Kuchen zu essen.
    »Wir gehen zu Taste.«
    »Da sollen doch immer so viele Offiziere sein.«
    »Na und?«
    Sie mußte sich daran gewöhnen, daß er nicht irgendein junger Mann war, eine Art Vetter, dem man Liebesbriefe schickt. Er ließ sie nicht einmal das Ende des Films sehen, sondern zog sie einfach mit. Als sie an erleuchteten Schaufenstern vorübergingen, merkte er, daß sie ihn verstohlen, mit schon ehrfurchtsvoller Neugier, betrachtete.
    »Es ist dort teuer«, wagte sie noch einzuwenden.
    »Das spielt keine Rolle.«
    »Ich bin dafür nicht angezogen.«
    Auch daran war er gewöhnt: an diese zu kurzen und zu engen Mäntel mit einem Pelzkragen, der von der Mutter oder der Großmutter stammte. Sie würde viele ihrer Art bei Taste treffen. Er hätte ihr antworten können, daß die Mädchen das erstemal immer so dorthin kämen.
    »Frank …«
    Es ist einer der wenigen Eingänge, die noch mit einem sehr sanften blauen Licht beleuchtet sind. In dem halbdunklen Flur liegt ein dicker Läufer, aber hier bedeutet das spärliche Licht nicht Armut, sondern im Gegenteil Reichtum, und der Portier in seiner Livree wirkt fast wie ein General.
    »Komm …«
    Sie gehen in den ersten Stock hinauf. Eine Messingstange blitzt zwischen jeder Stufe, und die Beleuchtungskörper an der Wand sind imitierte Kerzen. Zwischen geheimnisvollen Vorhängen streckt eine junge Frau die Hand aus, um Sissy den Mantel abzunehmen. In ihr Schicksal ergeben, fragt Sissy: »Soll ich?«
    Wie die anderen. Frank ist hier zu Hause. Er lächelt der Garderobenfrau zu, reicht ihr seinen Mantel, bleibt vor einem Spiegel stehen und fährt sich mit einem Kamm durchs Haar.
    In ihrem kurzen schwarzen Trikotkleid wirkt Sissy wie eine Waise. Frank schiebt einen Vorhang zur Seite, und sie blicken in einen gut geheizten Raum, in dem es nach Parfüm duftet und eine leise Musik erklingt und wo der Teint der Frauen an Glanz mit den Litzen der Uniformen wetteifert.
    Einen Augenblick lang war Sissy den Tränen nahe. Er hat es wohl gemerkt. Aber wenn schon!
     
    Kromer ist sehr spät zu Timo gekommen. Um halb elf. Schon seit mehr als einer Stunde wartete Frank auf ihn. Kromer hatte getrunken. Das sah man sofort an seiner zu straffen Gesichtshaut, seinen unnatürlich glänzenden Augen, seinen abgehackten Bewegungen. Als er sich setzen wollte, hätte er fast den Stuhl umgeworfen. Seine Zigarre roch gut. Es war eine noch bessere als sonst, obgleich er immer nur die besten raucht.
    »Ich habe eben mit dem General, der der Ortskommandant ist, zu Abend gegessen«, sagte er halblaut.
    Dann schwieg er, um Frank Zeit zu lassen, die Bedeutung seiner Worte abzumessen.
    »Ich habe dir dein Messer mitgebracht.«
    »Danke.«
    Er ergreift es, ohne es anzusehen, und steckt es in die Tasche. Er ist viel zu sehr

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