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Der Schnee war schmutzig

Der Schnee war schmutzig

Titel: Der Schnee war schmutzig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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ohne ein Wort zu sagen, dicht neben dem Bett.
    Vielleicht verabscheut sie ihn und kann doch nicht umhin, ihn zu lieben. Er weiß es nicht und will es auch nicht wissen. Kromer hörte sie. Frank sagt, und die Worte, die er nur mühsam herausbringt, kommen ihm selbst töricht vor:
    »Morgen wäre es zu spät gewesen. Dein Vater hat dann wieder Frühdienst.«
    Sie muß fast nackt sein, sie ist nackt. Er spürt Kleid und Wäsche unter seinen Füßen. Sie wartet. Das Schwierigste bleibt noch zu tun: sie auf das Bett legen.
    Sie tastet in der Dunkelheit nach seiner Hand. Sie flüstert, und es ist das erstemal, daß sie seinen Namen in diesem Ton ausspricht: »Frank.«
    Ein Glück nur, daß Kromer hinter der Tür ist.
    Sehr schnell und leise antwortet er: »Ich komme gleich …«
    Er hat Kromer im Vorbeigehen auf die Schulter getippt und hat ihn fast in das Zimmer stoßen müssen. Dann hat er sofort mit einer Hast, die er sich selber kaum erklären kann, die Tür zugemacht. Unbeweglich bleibt er stehen.
    Es gibt keine Stadt mehr, keine Lotte, keine Minna, niemanden mehr, auch keine Straßenbahn mehr, kein Kino und keine Welt. Es gibt nichts mehr außer einer Leere, die aufsteigt, außer einer Beklemmung, die ihm den Schweiß aus allen Poren treibt und ihn zwingt, die Hand auf die linke Brustseite zu legen.
    Jemand berührt ihn, und er ist nahe daran, laut aufzuschreien. Nur mit aller Kraft unterdrückt er den Schrei. Er weiß, es ist Minna, Minna, die die Tür des großen Zimmers, aus dem etwas Licht hereinfällt, offengelassen hat.
    Ob sie ihn sehen kann? Ob sie ihn gesehen hat, als sie hereinkam, bevor sie ihn wie einen Schlafwandler durch eine Berührung weckte?
    Er schweigt. Er grollt ihr, weil sie nicht irgendeine dieser blöden Bemerkungen gemacht hat, wie sie solchen Mädchen so leicht von den Lippen kommen.
    Sie bleibt neben ihm stehen, so steif und so bleich wie er, in dem schwachen Lichtschein, in dem die Gesichtszüge nicht zu erkennen sind, und erst viel später merkt er, daß sie ihre Hand auf sein Handgelenk gelegt hat.
    Es ist, als wolle sie ihm den Puls fühlen. Wirkt er krank? Er erlaubt ihr nicht, ihn als einen Kranken zu betrachten, ihn weiter anzusehen. Er erlaubt ihr nicht zu sehen, was niemand sehen darf.
    »Frank!«
    Man hat seinen Namen gerufen. Sissy hat gerufen. Sissy hat seinen Namen gerufen. Es ist Sissy, die barfuß durchs Zimmer läuft und an der Tür zum Flur rüttelt. Sissy, die um Hilfe ruft oder zu flüchten versucht.
    Vielleicht weil die andere, die er nicht liebt, die er verachtet, die nur eine Hure ist, weniger als ein Nichts – vielleicht weil Minna weiter sein Handgelenk festhält, rührt er sich nicht. Im Zimmer ist jetzt ein Lärm wie an dem Tag, als die Militärpolizei die Wohnung des Geigenspielers durchsuchte. Sie laufen barfuß hin und her, verfolgen sich, ringen miteinander, man hört Kromers Stimme. Er bemüht sich, den Kopf nicht zu verlieren.
    »Ziehen Sie wenigstens etwas über. Ich schwöre Ihnen, ich rühre Sie nicht mehr an …«
    »Den Schlüssel …«
    Erst später wird ihm das wieder einfallen. Jetzt denkt er nicht und rührt sich nicht. Er geht bis zum Äußersten. Er hat sich geschworen, bis zum Äußersten zu gehen.
    Kromer war immerhin geistesgegenwärtig genug, sich des Schlüssels zu bemächtigen. Bei ihnen brennt jetzt Licht. Man sieht unter der Tür einen hellen rosigen Streifen. Hat Sissy Licht gemacht? Hat sie zufällig die kleine elektrische Birne entdeckt, die über dem Bett hängt?
    Was tun sie? Sie kämpfen miteinander. Es hört sich wie eine Schlacht an, mit dumpfen, unerklärlichen Geräuschen. Wie eine abgenutzte Schallplatte wiederholt Kromer: »Nicht ehe Sie etwas übergezogen haben …«
    Sie spricht nicht mehr von Frank. Sie hat seinen Namen nur einmal ausgesprochen, hat ihn aus Leibeskräften gerufen.
    Wenn Nachbarn zu Hause sind, müssen sie es hören. Minna denkt daran. Frank rührt sich noch immer nicht vom Fleck. Nur eine Frage möchte er um jeden Preis stellen, auf Knien, wenn es sein muß, so wichtig ist sie plötzlich für ihn geworden.
    Ob Kromer …? Etwas in ihm zerbricht.
    Sissy ist fort. Die Tür ist laut ins Schloß gefallen. Man hat Schritte im Flur gehört. Minna hat sein Handgelenk losgelassen und ist ins Zimmer gestürzt, denn sie denkt an alles, sogar daran, die Tür zum Treppenhaus einen Spaltbreit zu öffnen. Kromer erscheint nicht sofort. So wie Frank ihn kennt, wird er darauf bedacht sein, sich erst wieder richtig

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