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Der Schnee war schmutzig

Der Schnee war schmutzig

Titel: Der Schnee war schmutzig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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Cafés gibt es sicher Spione und Nationalverbändler. Sie stehen auch in den Schlangen, vor denen er paradiert, obgleich er weiß, daß allein seine Kleider und Schuhe eine Provokation darstellen.
    Zweimal ist er Karl Adler begegnet, dem Fahrer des Wagens, der ihn in der Nacht, da er Fräulein Vilmos umgebracht hat, in das Dorf gefahren hat. Es ist seltsam: zweimal in vier Tagen und ganz zufällig und beide Male an Stellen, wo er ihn am wenigsten vermutet hätte, das erstemal vor dem Lido, das zweitemal vor einem Tabakladen in der Oberstadt.
    Vorher hatte er ihn nie getroffen. Oder vielmehr, da er ihn nicht kannte, hat er ihn hundertmal streifen können, ohne ihn zu bemerken.
    So macht man sich dumme Gedanken! Hat Adler absichtlich, aus Vorsicht oder aus einer Art Anständigkeit so getan, als ob er ihn nicht kenne?
    Aber das alles ist ohne Bedeutung. Sollte jedoch ein Komplott dahinterstecken, würde es Frank nur entzücken. Dennoch ist da eine Einzelheit, die ihn beunruhigt. Vor dem Kino war Adler nicht allein. Er war mit einem Mann zusammen, der ausgerechnet in ihrem Haus wohnt.
    Er hat diesen Mann nur manchmal flüchtig auf der Treppe gesehen. Er weiß, daß er im zweiten Stock wohnt, daß er eine Frau und eine kleine Tochter hat. Er muß achtundzwanzig bis dreißig Jahre alt sein. Er ist mager und wirkt krank und hat unnatürlich blondes Haar. Er ist kein Arbeiter. Ein Angestellter? Vielleicht. Nein, doch nicht, denn Frank ist ihm nicht zu bestimmten Stunden begegnet, sondern irgendwann im Laufe des Tages, aber er sieht auch nicht wie ein Vertreter aus.
    Wahrscheinlich ist er Techniker wie Adler, und in diesem Fall ist es natürlich, daß sie sich kennen.
    Man weiß nie, wer zu einer Widerstandsgruppe gehört. Es sind oft die äußerlich am harmlosesten wirkenden Menschen, und der Blonde aus dem zweiten Stock mit seiner Frau und seinem Töchterchen ist genau der Typ des Mieters, der gar nicht auffällt.
    Warum sollten diese Leute ihn umbringen? Er hat ihnen nichts getan. In Wirklichkeit bringen sie vor allem ihre eigenen Leute um, die sie verraten, und Frank kann sie nicht verraten, weil er sie nicht kennt. Daß sie ihn verachten, ist gewiß. Aber er hat – genau wie seine Mutter – viel mehr von der Wut der Nachbarn zu befürchten, die sie der Kohle, der warmen Kleidung und des guten Essens wegen beneiden.
    Lotte hat übrigens nur vor dem Viertel Angst. Sie weiß, da man Frank bisher in Ruhe gelassen hat, daß er Fräulein Vilmos’ wegen nichts zu befürchten hat. Sogar die Haltung Kurt Hamlings, die kleinen Bemerkungen, die er wie nebenbei fallengelassen hat, deuten nur auf eine lokale Gefahr hin. Sonst wäre doch kein Grund gewesen, Frank zu raten, ein paar Tage auf dem Land oder bei Freunden zu verbringen.
    Es ist Frank nicht gelungen, Holst wieder zu begegnen, wie es sich gewünscht hatte, aber sie haben sich von weitem gesehen. Holst, der seinen Schritt kennen muß, wie Frank den seinen kennt, hört Frank zehnmal am Tag ein- und ausgehen und könnte ihn im Treppenhaus stellen.
    Frank hat keine Angst. Es ist ein viel komplizierteres Gefühl. Es ist ein Spiel, das er erfunden hat, wie er als Kind viele erfand, die er allein verstand. Das geschah meistens morgens in seinem Bett, während Frau Porse das Frühstück machte, und vor allem, wenn die Sonne schien. Mit geschlossenen Augen sagte er zum Beispiel: »Fliege!«
    Dann machte er die Augen halb auf und blickte nur auf eine bestimmte Stelle der Tapete. Wenn dort eine Fliege saß, hatte er gewonnen.
    Jetzt hätte er sagen können: »Schicksal.«
    Denn er wollte, daß das Schicksal sich mit ihm befaßte. Er hatte alles getan, um es dazu zu zwingen. Er forderte es weiter von früh bis spät heraus. Am Tag zuvor hatte er lässig zu Kromer gesagt: »Frag doch mal deinen General, was ihm außer den Uhren noch gefallen würde.«
    Er brauchte kein Geld. Selbst wenn er weiter so viel ausgab wie augenblicklich, würde es noch für Monate reichen. Er brauchte überhaupt nichts. Er hatte sich einen noch auffallenderen Mantel gekauft, einen Mantel, wie es deren nur fünf in der Stadt gab, hellbeige, aus echtem Kamelhaar. Für die Jahreszeit hätte er zwar etwas dicker sein dürfen, aber Frank trug ihn, um die Leute damit herauszufordern.
    Ebenso hatte er immer seinen Revolver in der Tasche, obgleich dessen Gewicht ihn störte und der Revolver trotz des grünen Ausweises ihm einen bösen Streich hätte spielen können.
    Er hatte keine Lust, zum Märtyrer zu werden oder

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