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Der Schnee war schmutzig

Der Schnee war schmutzig

Titel: Der Schnee war schmutzig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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tue es nicht. Man könnte sonst glauben, du schiebst mir einen Zettel zu oder flüsterst mir etwas ins Ohr.«
    Er hat gar keine Lust, sie zu küssen. Sie hat gewiß schon eine ganze Weile gewartet, als er kam, denn man hatte vorher schon Zeit gehabt, den Koffer zu durchsuchen.
    »Bleib gesund. Paß auf dich auf. Mach dir vor allem keine Sorgen.«
    »Ich mache mir keine Sorgen.«
    »Du bist so seltsam.«
    Auch sie hat es jetzt eilig, dies hinter sich zu haben. Sie wird dem Tor gegenüber auf die Straßenbahn warten und während der ganzen Fahrt heulen.
    »Auf Wiedersehen, Frank.«
    »Auf Wiedersehen, Mutter.«
    »Paß auf dich auf.«
    »Ja doch, ja!«
    Als ob er die Absicht hätte, zugrunde zu gehen!
    Der Chef blickt auf und sieht die beiden nacheinander an. Dann deutet er auf den Koffer. Ein Zivilist führt Lotte durch den Hof, und man hört ihre Schritte sich entfernen und ihre hohen Absätze auf dem harten Schnee hallen. Der Chef spricht langsam, sucht nach den Worten. Er legt Wert darauf, den richtigen Ausdruck zu benutzen, und bemüht sich um eine möglichst korrekte Aussprache. Er hat Stunden genommen und übt sich weiter fleißig in der Sprache.
    »Sie müssen sich jetzt fertig machen.«
    Er betont jedes Wort. Er wirkt nicht boshaft, sondern ist nur darauf bedacht, kein falsches Wort zu gebrauchen. Er zögert, bevor er einen längeren Satz beginnt, und sagt ihn sich in Gedanken vor, ehe er ihn auszusprechen wagt: »Wenn Sie sich rasieren lassen wollen, wird man Sie dorthin führen.«
    Frank lehnt es ab. Das war ein Fehler. Er hätte dadurch die Möglichkeit gehabt, einen anderen Teil des Schulkomplexes kennenzulernen. Er könnte nicht sagen, von welchem Gefühl er sich dabei hat leiten lassen. Er will doch keineswegs schmutzig sein und den struppigen Häftling spielen. Die Wahrheit ist – er wird Tage brauchen, bis er sich dies zugibt –, daß er unwillkürlich an Hoists Filzstiefel gedacht hat, als von seinem Bart die Rede war. Das beides hat nichts miteinander zu tun. Er möchte, daß es gar nichts miteinander zu tun habe. Er lenkt seine Gedanken lieber in eine andere Richtung.
    An Stoff dazu fehlt es ihm jetzt nicht. Man läßt ihn seinen Koffer tragen. Wieder geht ihm ein Zivilist voran, und der Soldat folgt ihm, während man ihn in sein Klassenzimmer zurückbringt. Er hat ein wenig die Illusion, sich in ein Hotelzimmer zu begeben. Man schließt seine Tür wieder ab und läßt ihn allein. Warum hat man ihm befohlen, sich fertig zu machen? Es ist ein Befehl, daran ist nicht zu zweifeln. Der Augenblick ist gekommen. Man wird ihn woanders hinbringen. Wird man ihn seinen Koffer mitnehmen lassen? Und ob er wieder hierherkommt? Sicherlich hat man die Zeitungen herausgenommen, in die die Sachen eingewickelt waren, denn alles liegt durcheinander. Da sind rosa Seifenstücke, die an Bertas Haut erinnern, eine geräucherte Wurst, ein ziemlich dickes Stück Speck, ein Pfund Zucker und ein paar Tafeln Schokolade. Auch ein halbes Dutzend Hemden, sechs Paar Socken sowie einen neuen Pullover, den seine Mutter ihm gekauft hat, findet er in dem Koffer. Unten liegt sogar ein Paar gestrickter Handschuhe aus dicker Wolle darin, wie er sie draußen niemals getragen hätte.
    Er zieht sich um. Er hat die Frau am Fenster verpaßt. Er denkt zu schnell, aber das ist gleichgültig. Man hat seinen ganzen Zeitplan durcheinandergeworfen, und das steigert seine Verstimmung. Er sehnt sich nach seiner Einsamkeit und nach seinen kleinen Gewohnheiten zurück. Wenn er wiederkommt – vorausgesetzt, daß er überhaupt wiederkommt –, wird er über das alles nachdenken müssen. Er knabbert ein Stück Schokolade, ohne sich dabei bewußt zu sein, daß er es seit neunzehn Tagen zum erstenmal tut, und von Lottes Besuch bleibt nur ein Gefühl der Enttäuschung zurück.
    Er weiß nicht, wie der Besuch hätte anders verlaufen sollen, aber er ist enttäuscht. Er hat keinen Berührungspunkt mit ihr gefunden. Er hat ihr Fragen gestellt und den Eindruck gehabt – und diesen Eindruck hat er noch –, daß ihre Antworten zu seinen Fragen überhaupt keine Beziehung hatten.
    Dennoch hat sie ihm so schnell und direkt wie möglich von allem berichtet. Die Behörden haben sie bestimmt in Ruhe gelassen, denn am Tag zuvor wußte sie noch gar nicht, wo er war. Die Zeitungen haben also nichts über ihn geschrieben. Die Ortspolizei befaßt sich nicht mit ihm. Sie hätte das sonst durch Hamling erfahren.
    Hamling verkehrt weiter im Haus, aber er hat den

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