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Der Schneesturm

Der Schneesturm

Titel: Der Schneesturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Sorokin
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zurück zum Tisch, drehte den Lampendocht herunter, setzte sich auf ihren Platz und drückte den roten Knopf auf dem Kästchen. Es knackte im Empfänger, und über ihm erschien ein rundes Hologramm mit einer dicken 1 in der rechten oberen Ecke. Auf dem ersten Kanal liefen Nachrichten; von der Rekonstruktion des Automobilwerks in Schiguli war die Rede und von den neuen einsitzigen Kraftfahrzeugen mit Kartoffelantrieb. Die Müllerin schaltete um auf Kanal 2. Da lief der Werktagsgottesdienst. Die Müllerin bekreuzigte sich mit einem Seitenblick auf den Doktor. Der saß da und glotzte teilnahmslos auf den greisen Popen im Ornat und die jungen Diakone. Sie schaltete weiter. Der dritte und letzte war der Unterhaltungskanal. Wie üblich war hier ein buntes Endlosprogramm im Gange. Erst sangen zwei schöne Mädchen in Leuchthäubchen ein Lied über den Goldenen Hain im Duett, dann erzählte eine breitgesichtige Frohnatur mit viel Augenzwinkern und Zungenschnalzen von den Ränken seiner rastlosen »Atomschwiegermutter«, was die Müllerin ein paarmal zum Lachen reizte, den Doktor nur zu einem müden Räuspern bewegen konnte. Dann begannen Burschen und Mägdelein einen langwierigenReigentanz an Deck des Dampfers Jermak, der währenddessen den Jenissej hinabfuhr.
    Darüber schlummerte der Doktor ein.
    Die Müllerin schaltete den Empfänger aus.
    »Ich seh schon, Sie sind müde«, sprach sie und richtete ihr von den Schultern geglittenes Tuch.
    »Nein, nein, überhaupt nicht«, murmelte der Doktor und suchte die Benommenheit abzuschütteln.
    »Aber ja doch, Ihnen fallen schon die Augen zu. Und für mich ist es genauso Zeit.« Die Müllerin erhob sich.
    Auch der Doktor stand auf. Trotz aller Schläfrigkeit mochte er sich von der Müllerin nicht trennen.
    »Ich geh noch eine Zigarette rauchen.« Er nahm den Kneifer ab, rieb sich die Nasenwurzel, zwinkerte mit den glasigen Augen.
    »Ist recht. Derweil richte ich alles her.« Mit rauschenden Röcken verließ die Müllerin die Stube.
    Jetzt geht sie hinauf!, dachte der Doktor, und sein Herz begann zu klopfen.
    Er hörte zweierlei Schnarchen – das eine, leisere, kam vom Krächz auf dem Ofen; das andere von hinter dem Vorhang ließ an das Zirpen eines Heimchens denken.
    »Ihr Mann schläft … Die Schnapsdrossel … Oder eher ein Schnapsfloh … Eine Schnapsmücke!«
    Lachend zog der Doktor seine Zigaretten hervor, zündete eine an und verließ die Stube. Ging durch den dunklen kalten Flur, stieß gegen irgendetwas, fand nach einigem Herumtasten die Hoftür, schob den Riegel zurück und trat hinaus.
    Es hatte aufgehört zu schneien. Wind wehte, der Himmel hatte aufgeklart. Durch dunkle Wolkenfetzen schien der Mond.
    »Es hat sich tatsächlich beruhigt«, sprach der Doktor vor sich hin, während er an seiner Zigarette zog. »Manhätte noch fahren können …« Er ging bis zur Mitte des Hofs, der frisch gefallene Schnee knirschte.
    Doch sein Herz klopfte, pumpte heißes, gieriges Blut.
    Nein, heute fahr ich nirgendwo mehr hin, dachte er.
    »Morgen!«, sprach er energisch und ging, die Zigarette zwischen den Zähnen, zum Holzstapel, gegen den er sein Wasser schlug.
    Im Schuppen knurrte der Hund.
    Schnell rauchte der Doktor auf, warf die Kippe in den Schnee.
    Anscheinend pflegt sie bei ihrem Mann im Bett hinterm Vorhang zu schlafen. Wo auch sonst? Da liegt sie, groß und weiß, und er neben ihr wie eine Kinderpuppe …
    Der Doktor stand auf dem Hof, atmete die frische, belebende Winterluft und schaute empor zu den Sternen, die zwischen den ziehenden Wolken aufblinkten. Auch der Mond lugte hervor und beschien den Hof: den Stall, den Holzstoß, den Heuboden mit Schneemützchen obenauf; das Mondlicht funkelte auf dem frisch gefallenen Schnee, in Myriaden Kristallen. Und seltsam: Dieser verschneite Hof, der Friede des abgelagerten, vor Zeiten von Menschenhand zurechtgehauenen und zusammengefügten Holzes steigerten Platon Garins Begehren. Der Anblick dieses ruhenden Stapels aus Hunderten gefrorener Birkenklötzer, dem strahlenden Tod im Ofen geweiht, schien ihm nur sagen zu wollen: Dort drinnen im Haus, da ist Wärme, Leben, Lust, da ist das, worauf die Menschenwelt mit ihren Holzstapeln, Dörfern, Schneemobilen, Städten, Epidemien, Eisenbahnen, Aeroplanen fußt auf Gedeih und Verderben, und diese Wärme, diese weibliche Natur wartet nur darauf, von dir begehrt und berührt zu werden.
    Ein Schauer lief dem Doktor über den Rücken, er schüttelte sich, atmete tief aus und ging ins Haus.

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