Der Schneider himmlischer Hosen
sichtbar an einem Haken.
Als wir nach japanischer Sitte unsere Schuhe ausgezogen hatten, bemerkte ich an Kuniangs Strümpfen Musterbeispiele der Stopfkunst, wie sie die Mutter des Kleinen Lu beherrscht. Kuniangs Füße glichen seidenen Mosaiken, dem sogenannten Kosseus, der von Sammlern chinesischer Antiquitäten geschätzt wird.
Onkel Podger kam nicht mit in das japanische Zimmer. Er legte sich auf Kuniangs Bett.
«Onkel Podger ist ganz und gar nicht damit einverstanden, daß es hier keine Sofas und Sessel gibt», sagte sie. «Sobald ich es mir erlauben kann, muß ich ihm ein Körbchen kaufen.»
Eigentlich konnte ich Onkel Podger nicht ganz unrecht geben, obgleich ich mich Kuniang zuliebe schleunigst auf dem Boden niederließ. Aber auch sie schien nicht danach angezogen, um asiatischer Behaglichkeit frönen zu können. Ihr Kleid war zu eng, um bequem, zu kurz, um sittlich zu sein. Sie zerrte und zog unaufhörlich am Rock, bis ich vorschlug, sie solle den neuen Kimono anziehen. Anscheinend gefiel ihr der Vorschlag, denn sie verschwand in der anderen Hälfte des Pavillons, um den Kleidungswechsel vorzunehmen.
Nach einigen Sekunden vernahm ich röchelnde Laute, und eine erstickte Stimme rief:
«Bitte, bitte, komm doch her und hilf mir heraus.»
Ich ging hinüber, um zu sehen, was los war.
Da stand Kuniang, vollkommen hilflos, das blaue Marocainkleid über den Kopf gezogen und die Arme so fest darin verfangen, als wären sie mit Stricken zusammengebunden. Im Kielwasser des alten, engen Kleides war ihr einziges Wäschestück bis zur Taille hinaufgerutscht. Der Anstand verbietet es mir, zu sagen, wieviel von Kuniangs Mädchenkörper das unselige Durcheinander sehen ließ — aber jedenfalls genug, um eine zornige Röte zu enthüllen, die nur von einer freigebig angewandten Rute stammen konnte.
Ich kam ihr zu Hilfe, erreichte aber nicht viel. Die Situation war mir doch zu heikel.
Endlich tauchte Kuniang aus dem Kleid hervor, atemlos und zerrauft. Als sie den Kimono angezogen hatte und wir wieder auf den Matten saßen, fragte ich: «Wäre es nicht an der Zeit, daß du mir die Hälfte des Kristallsiegels bringst?»
Zuerst verstand sie nicht, was ich meinte. Als sie daraufkam, wurde sie rot, erwiderte aber rasch:
«Ab und zu kann ich es vertragen. Sie sind jetzt etwas schwer verdaulich, die Russen. Heute nachmittag gab’s einen furchtbaren Krach, bloß wegen der Spinnen.»
«Meinst du die Präparate in den Flaschen auf der Stellage?»
«Ja. Wir tollten im Schulzimmer und warfen eine volle Reihe Spinnen um. Sechs Flaschen gingen entzwei.»
«Araignée du matin, chagrin! Ich habe geglaubt, es braucht sie niemand mehr, da doch der rumänische Prinz gestorben ist!»
«Es braucht sie auch kein Mensch, obgleich Patuschka hofft, daß er sie einmal einem Petersburger Museum andrehen kann. Die Spinnen waren bloß eine Ausrede. Matuschka wollte es mir heimzahlen, daß ich damals die ganze Familie auslachte, als sie Elisalex um Gnade baten. Ich habe schon gemeint, sie hört nie mehr auf.»
Kuniang rieb sich nachdenklich mit dem Kimono. Dann fragte sie :
«Glaubst du, daß Lippensalbe etwas nützen würde?»
Mein erster Eindruck von der russischen Familie war doch richtig gewesen. Signor Cante wußte nicht, was er tat, als er solchen Leuten seine Tochter anvertraute. Eigentlich hätte ich eingreifen sollen. Aber ehe man zur Rettung eines bedrängten Edelfräuleins auszieht, muß man wissen, ob besagtes Edelfräulein auch gerettet werden will.
Abgesehen von der Frage nach «Lippensalbe» hatte Kuniang keinerlei Wünsche nach Hilfe und Beistand geäußert. Sie hatte sich nicht einmal beklagt. Sie beklagte sich überhaupt nie. Der Vater durfte nicht erfahren, daß es in der besten dieser Welten nicht zum besten um sie stand. Ich durfte nicht belästigt werden. Sie konnte es vertragen, ab und zu von Matuschka Prügel zu bekommen. Und zu guter Letzt würde sie bestimmt Fjodors Drängen nachgeben und ihm im Evakostüm sitzen. Hatten sie nicht alle miteinander letzten Sommer im Bassin nackt gebadet?
Aber die Atmosphäre bei den Russen schien mir verändert, seit Elisalex dort wohnte. Naturkinder waren sie stets gewesen, in der gesunden Schamlosigkeit der Wilden. Doch Elisalex war kein Naturkind. Ihr eignete die Schamlosigkeit Phrynes. Hatte nicht der Verfasser des anonymen Briefes recht, wenn er ihr «dleckige Dleck-Liebe» vorwarf?
Wir saßen noch eine Weile beisammen, und ich zerbrach mir den Kopf, was ich tun sollte.
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