Der Schneider himmlischer Hosen
Gott!»
«Beunruhigt Sie das?»
«Ich muß gestehen, daß ich erschrocken bin. Aber Sie sind doch sicher nicht so ungeordnet erzogen worden?»
«Nein. Nur war ich als Kind viel allein. Und man merkt sofort, daß auch Kuniang viel allein gewesen ist. Sie fiel mir buchstäblich um den Hals, bloß weil ich ihr freundlich entgegenkam. Sie erzählte mir, daß sie niemals eine Freundin, eine wirkliche Freundin besessen hat, der man alles und jedes erzählen kann. Mir ging es genauso.»
«Sind Sie nicht in Petersburg aufgewachsen?»
«Nein. Auf dem Land, in der Nähe von Jaroslaw. Ich hatte keine Geschwister, und meine Mutter starb — wie Kuniangs Mutter —, als ich noch ganz klein war. Mein Vater lebte wie ein Einsiedler. Den größten Teil seiner Zeit verbrachte er in der Bibliothek und kümmerte sich um mich nur, wenn ich ihn dort aufsuchte. Dann war er besonders freundlich und bemühte sich redlich, mir etwas beizubringen oder seine Lieblingsbücher zu erklären. Er stellte sich das Paradies als eine riesige Bibliothek vor, wo man nur ein Buch von seinem Regal herunterzuholen braucht, um auf jede Frage die Antwort zu finden, und wo man alles, was man wissen will, in ein paar Stunden vergnüglicher Lektüre erlernt. Aber ich wollte lieber—wie die meisten jungen Menschen — aus Erfahrungen lernen; aus meinen eigenen Erfahrungen. Fast die ganze Zeit tat ich, was mich freute. Ich war Erbin großer Güter und wurde dementsprechend behandelt. Aber trotzdem war ich einsam. Es tut nicht gut, wenn ein heranwachsendes Mädchen einsam ist. In meinem Alter macht es nicht mehr so viel.»
Was mochte sie mit «meinem Alter» meinen? Elisalex war höchstens fünf- oder sechsundzwanzig.
«Ich verstehe noch immer nicht», sagte ich, «was Sie eigentlich an Kuniang so fesselt. Auch wenn sie Sie an die eigene Mädchenzeit erinnert, können Sie doch nur wenig mit einer kleinen Italienerin gemein haben, die in China aufgewachsen ist.»
«Zwei Menschen müssen nicht das mindeste miteinander gemein haben und können sich doch sehr nahestehen. Und im allgemeinen ziehen Gegensätze einander an. Was mich an Kuniang fesselt, ist ihre Unkenntnis alles Bösen. Nicht, daß sie unschuldig wäre, aber sie ist gut, von jener Güte, die nichts und niemanden schlecht findet. Das ist die Güte eines kleinen Kindes. Und ihrer ist das Himmelreich.»
Ich sah Elisalex überrascht an. Ihr Ausdruck zeigte jene mystische Zärtlichkeit, die das Vorrecht der Slawen ist.
Ihre nächste Bemerkung überraschte mich noch mehr.
«Haben Sie sich nie gewundert, daß ich eine so blödsinnige Frisur trage?»
«Ich dachte, daß sie Ihnen gefällt.»‘
Elisalex nahm den Hut ab und legte ihn auf das danebenstehende Tischchen. Dann stand sie zu meiner Verwunderung auf und kam herüber; sie kniete neben mir auf dem Boden nieder und stützte die Ellbogen auf die Armlehnen meines Sessels, so daß ihr Gesicht in gleicher Höhe mit dem meinen war.
«Streichen Sie mir das Haar zurück und sehen Sie einmal meine Stirn an», sagte sie.
Ich tat, wie sie befahl, und ein köstlicher Schauer überlief mich bei der Berührung. Im nächsten Augenblick schrie ich verblüfft auf. Knapp oberhalb der linken Augenbraue hatte sie ein mattrotes Muttermal von der Form eines Halbmondes. In Lage und Aussehen glich es genau dem Muttermal auf Kuniangs Stirn.
«Glauben Sie nicht», fragte Elisalex, «daß zwei Menschen, die so sonderbar gleich gekennzeichnet sind, etwas Gemeinsames haben müssen? Vielleicht sogar ein gemeinsames Schicksal, das sie aneinanderkettet?»
Ich gab keine Antwort. Ich hörte kaum, was sie sagte. Meine Hand hielt ihr noch immer das Haar von der Stirn. Ich konnte ihren Atem auf meiner Wange spüren, ihre Augen blickten in die meinen. Oh, diese Augen, diese Augen! Was sahen die Männer darin? Was sah ich darin; das mich anzog und festhielt mit magischem Zauber? Die unvergeßliche Schönheit der endlosen Ebene, die Blumen der Tundra, den verwirrenden Glanz des Winterschnees. Aller Reiz der Natur, alle Liebesfähigkeit der Frau schimmerte aus diesen Fenstern einer Seele, die ihren Gefährten suchte.
Mir schwindelte, und das Zimmer drehte sich um mich, während Elisalex die Arme um meinen Hals legte und ihr Gesicht an das meine preßte.
Im nächsten Augenblick aber sprang Elisalex leichtfüßig auf und blieb stehen. Lächelnd sah sie zu mir herab.
«Auch ich kann prophezeien», sagte sie, «wie Grigori Efimowitsch. Aber meine Prophezeiungen handeln nur von
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