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Der Schneider himmlischer Hosen

Der Schneider himmlischer Hosen

Titel: Der Schneider himmlischer Hosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniele Varè
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Schmetterlinge kreisten noch immer um den Fliederbusch. Ich streckte ihnen die Hände hin, wie es vorhin der Abt getan hatte, um zu sehen, ob sie zu mir kämen; aber sie flatterten davon und verschwanden hinter einer niederen Mauer, die den Hof vom Haupttempel trennte. Ich wandte mich um und bemerkte ein paar Kleinigkeiten, die auf der weichen Erde unter den Büschen lagen: einen schmalen geöffneten Brief und daneben zwei Walnüsse mit glänzend polierten Schalen. Die Chinesen halten solche Walnüsse (zuweilen auch metallene oder elfenbeinerne Bällchen) zwischen den Fingern und drehen sie um und um, damit die Hand geschmeidig bleibt. Der Abt hatte sie wahrscheinlich aus den weiten Ärmeln gestreut, als er die Hände hochhielt, um die Schmetterlinge zu rufen. Ich hob sie auf, auch den Brief, und legte alles auf die Marmorfliesen neben den Stufen zur Tür des Zimmers, in dem Paul schlief. Den Brief tat ich unter die Walnüsse, damit er nicht weggeweht würde. Der Abt konnte sein Eigentum nicht übersehen, wenn er herauskam.
    Als ich den Brief dabei umwandte, bemerkte ich zu meinem Erstaunen, daß er auf schwerem ausländischem und nicht auf dem leichten Reispapier geschrieben war, das die Chinesen benützen; zugleich sah ich die Adresse, in schwungvoller Frauenschrift geschrieben:
     
    An den
    Fürsten Dorbon Oirad
    Peking
     
    Der Umschlag trug keinen Stempel und das Briefpapier duftete nach einem Parfüm, das mir sonderbar bekannt vorkam.
     
    Wer weiß, wie lange Paul geschlafen hätte, wäre nicht in einem der Haupthöfe, in der Nähe seines Zimmers, ein entsetzlicher Lärm von Trommeln und Gongs losgebrochen. Diè Zeremonie, an der meine beiden Freunde teilnahmen, hatte begonnen. Zeremonien im Lamatempel sind meist mit viel Lärm verbunden. Die Chelas bekommen riesige Rasseln, die sie mit großer Inbrunst schwingen. Dadurch entsteht ein donnerähnliches Geräusch, das stark genug ist, Tote aufzuwecken. Und das soll es wahrscheinlich auch.
    Ich ging wieder ins Zimmer und sah nach Paul. Er saß auf dem Rand des Kang, einigermaßen benommen. Kuniang fragte ihn nach seinem Traum, aber er schüttelte den Kopf, ohne zu antworten. Wahrscheinlich war er halb betäubt vom Opium. Ich schlug vor, heimzufahren. Nach den üblichen umständlichen Abschiedszeremonien, an denen Paul sich nicht beteiligte, begaben wir uns zum Ausgangstor des Tempels und bestiegen unsere Rikschas.
     
    Es war etwa sechs Uhr, als wir im Heim der Fünf Tugenden anlangten und uns trennten, um unsere Zimmer aufzusuchen. Erst als wir uns im Arbeitszimmer wiedersahen, eine Stunde vor dem Abendessen, schien Paul das Erlebnis des Nachmittags abgeschüttelt zu haben. Von den Opiumschwaden war ihm ein leichter Kopfschmerz zurückgeblieben, aber er vermochte klar zu denken und seinen Traum zu erzählen:
    «Es war etwas ganz Merkwürdiges», sagte er. «Ich hätte etwas Mongolisches oder Chinesisches erwartet. Aber der Traum hatte überhaupt nichts Asiatisches an sich. Ich war mit Ihnen» — er sah zu Kuniang — «im Boudoir einer Dame, in Ihrem Boudoir, in einem Haus in Europa.»
    «Der Abt hat uns angekündigt, daß Sie von mir träumen würden», erwiderte Kuniang. «Aber woher wissen Sie, daß Sie in Europa waren?»
    «Weil ich Ihnen die Stadt nennen kann: Petersburg. Das weiß ich, obgleich ich nie dort gewesen bin.»
    «Und was geschah?»
    «Nichts. Ich saß neben Ihrem großen Toilettentisch, der einen venezianischen Spiegel mit gläsernem Rahmen hatte. Sie standen vor dem Spiegel, in einem weißen Ballkleid, und ließen sich von zwei Kammerjungfern beim Anlegen der Juwelen helfen.»
    «Das sieht mir aber nicht sehr ähnlich. Juwelen und zwei Zofen, die mir beim Anlegen helfen! Was für Steine waren es?»
    «Diamanten. Lauter Diamanten. Ein Diamantstern in ledernem Etui mit dem kaiserlichen Wappen. Zumindest hielt ich es für das kaiserliche Wappen: ein doppelköpfiger, gekrönter Adler. Wir berieten, ob Sie es nehmen sollten. Sie nannten es das Alexanderkreuz.»
    «Warum Kreuz, wenn es ein Stern war?» Kuniang schien nicht geneigt, Ungenauigkeiten durchgehen zu lassen.
    «Es war beides. Ein Stern aus Diamanten und in den Stern hineingearbeitet ein Kreuz aus riesigen Brillanten. Der Anblick blendete geradezu. Aber Sie trugen auch ohne das genügend Schmuck: große Brillanttropfen in den Ohren und einen russischen Kopfschmuck, eine Art Tiara aus lauter Brillanten, von der ein Spitzenschleier zur Erde herabhing. Ich redete Ihnen zu, das Alexanderkreuz

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