Der Schock: Psychothriller (German Edition)
sie weg, gestern Abend. Hat sich mein Taschenmesser geliehen.«
»Na großartig«, seufzte Jan. »Und warum hat sie ihr Portemonnaie hiergelassen?«
»Was weiß denn ich«, sagte Gandalf unwirsch. »Sie hat’s eben hiergelassen. Ich pass solange drauf auf.«
Jan sah ihn schweigend an und entschied sich, es vorläufig bei dieser Antwort zu belassen. Er hatte nichts davon, wenn er Gandalf gegen sich aufbrachte. »Und sie hat nicht gesagt, was sie erledigen will? Oder wohin sie will?«
Gandalf schüttelte den Kopf. »Nee. Sie meinte …« Er brach kurz ab, suchte nach Worten. »Also, sie meinte, dieser Typ wüsste, wo sie wohnt. Sie könnte nicht nach Hause zurück. Deswegen wollte sie ja eine Weile bei mir bleiben.«
»Aber warum ist sie dann noch nicht wieder hier?«
Gandalf zuckte mit den Achseln.
Jan seufzte und rieb sich erschöpft übers Gesicht. »Vielleicht ist sie doch zur Polizei.«
»Nicht Lory. Hat viel zu viel Angst, dass sie sie wegstecken.«
»Wegstecken?« Jan hob die Brauen. Die Haut auf seiner Stirn brannte. »Was meinst du damit?«
Gandalfs Augen wurden schmal. »Scheinst ja nich viel zu wissen über Lory. Stellst ganz schön viele Fragen.«
Jan spürte, dass er rot wurde. »Ich kenne sie noch von früher, aus der Schule. Aber sie ist irgendwann auf ein Internat gegangen. Dann haben wir uns ’ne Weile aus den Augen verloren und haben uns erst vor kurzem wiedergetroffen.«
»Wiedergetroffen. Ach so.«
Jan nickte.
Gandalf war seine Gesichtsfarbe nicht entgangen, und er grinste in seinen Bart. »Hat dich ganz schön erwischt, oder?«
Jan verzog das Gesicht. Erwischt. Das traf es wohl am besten.
Gandalf grinste noch breiter, die Falten in seinem Gesicht wurden zu dunklen Furchen. »Hab nich das Gefühl, dass du weißt, auf wen du dich da eingelassen hast …«
»Scheint mir auch so.«
»Haste Geld?«
»Geld?«
»Na ja«, brummte Gandalf. »Da oben«, er deutete mit der Hand über ihre Köpfe, »da is ’ne Tanke. Neulich hatten die noch so’n Einmalgrill und Würstchen.« Er grinste listig. »Wenn ich was von Lory erzählen soll, brauch ich was im Bauch. Und wärmer is es dann auch.«
Jan nickte. Er sah an Gandalf vorbei, in den immer dichter werdenden Nebel, und fröstelte. »Ist ’ne gute Idee«, sagte er. Als er aufstand, spürte er die Schmerzen in der Nierengegend, da, wo Gandalfs Schlag ihn getroffen hatte.
»Und Johnnie Walker noch, Red Label«, rief Gandalf ihm nach.
Kapitel 23
Berlin, 20. Oktober, 19:32 Uhr
Laura horchte auf. Waren da nicht Stimmen? Ganz leise? Sie ging hinüber zur Kellerwand und legte ihr Ohr an die Mauer. Die Ziegel waren kalt und ein wenig feucht. Direkt vor ihren Augen lief ein dickes Abflussrohr senkrecht an der Wand hinunter.
Vor einigen Stunden war sie aufgewacht, auf einer dünnen Matratze, mit Kopfschmerzen, Übelkeit und einem süßlichen Geruch in der Nase. Sie lag mitten in einem leeren Raum auf dem nackten Steinboden. Das einzige Licht drang durch eine Reihe dicker Glasbausteine knapp unterhalb der Decke herein. Die gegenüberliegende Tür war aus einer anderen Zeit. Altes, massives Holz, grau gestrichen, die Klinke silbern, abgewetzt, die Form kam ihr merkwürdig bekannt vor, wie überhaupt alles in diesem Kellerraum. Plötzlich wusste sie, wo sie war.
Im Keller ihres Elternhauses.
Dieselben Ziegelwände, dieselben Türen, die seltsamen, für einen Altbau unpassenden Glasbausteine, der Geruch. Das hier war der hintere Abstellraum. Sie hatte es nur nicht sofort bemerkt, weil er früher immer mit Kisten und Kartons vollgestellt gewesen war. Jetzt war er leer, bis auf ein paar PET-Flaschen mit Wasser, einen Heizlüfter, einen Eimer, mehrere Dosen, Keksschachteln und eine Zehnerpackung Toilettenpapier.
Sie versuchte, sich zu konzentrieren. Das Bedürfnis nach einem Drink wurde plötzlich so groß, dass es drohte, alles andere zu verdrängen. Doch der einzige Drink in diesem Raum schien das Wasser zu sein. Die Ereignisse der letzten Tage sprangen wild in ihrem Kopf umher, wie Perlen einer gerissenen Kette: die Galerie mit den Frauenleichen, das Arbeitszimmer ihres Vaters, der Tätowierte, das Haus von Jans Vater in Èze, Gandalf und die Brücke …
Sie tastete ihren Schädel ab und zuckte zusammen, als ihre Finger die schmerzende Beule berührten.
Sofort war alles wieder da. Der Einbruch bei ihren Eltern. Der Revolver, der nicht an seinem Platz war. Ihre Mutter, die sie erwischt hatte, die ihr sogar Geld geboten hatte, damit sie aus
Weitere Kostenlose Bücher