Der Schock: Psychothriller (German Edition)
mehr als dankbar dafür.
1977. Jan rechnete nach. So rasch das Gespräch mit Maria Hülscher vorhin an Bedeutung verloren hatte, so massiv trat es nun wieder in den Vordergrund. »Peter Nolte war auf dem Foto im Nordholm-Jahrbuch von 1993 etwa Anfang dreißig. Heute müsste er also Anfang fünfzig sein, und damals, 1977, ungefähr zwanzig. Beides passt.«
»Und du glaubst wirklich, dass er es geschafft hat, seinen Albinismus an der Schule zu verbergen?«
»Wenn ich an die Geschichte von Maria Hülscher denke, dann schon. Er macht das ja offenbar schon seit seiner Kindheit. Auch in der Schule. Damals in dieser Dusche, so erwischt zu werden, das hatte sicher katastrophale Folgen für ihn. Danach wird er noch gewissenhafter geworden sein. Ich vermute, er hat jede noch so kleine Kleinigkeit kontrolliert.«
»Aber so ein Kontrollfreak muss doch auffallen.«
»Vielleicht muss ich morgen früh noch einmal Direktor Breitner anrufen.«
»Meinst du, der redet noch mal mit dir, nach der Geschichte heute?«
»Kommt sicher auf meine Wortwahl an«, sagte Jan. Er versuchte ein Grinsen, doch es geriet zu einer Grimasse. »Aber mich beschäftigt noch etwas anderes. Ich frage mich die ganze Zeit, wie uns dieser Typ gefunden hat. Zuerst war er in meiner Wohnung. Gut, meine Adresse ist kein Geheimnis. Wenn er meinen Namen kennt, dann kann er auch recherchieren, wo ich wohne. Dann taucht er plötzlich unter der Brücke auf. Vielleicht, weil es einer von Lauras Lieblingsplätzen ist. Und da es irgendeine Verbindung zwischen ihm und ihr gibt, kennt er diesen Platz. Vielleicht hat er sogar die Fotos gemacht.
Aber wie in aller Welt schafft er es, uns in Nordholm aufzuspüren? Ist er uns schon von Berlin aus gefolgt?«
»Das wäre mir aufgefallen«, meinte Katy. »Ich gucke oft in den Rückspiegel, und ich bin sicher, auf dem Hinweg war er noch nicht da.«
»Dann müsste ihm jemand von Nordholm aus Bescheid gegeben haben.«
»Moment mal«, sagte Katy. »Dieser Kerl hatte doch ein Berliner Kennzeichen. Und von Berlin bis Nordholm sind es drei Stunden. Das haut nicht hin. Da wären wir schon längst wieder weg gewesen, wenn er in Nordholm angekommen wäre.«
»Außer«, gab Jan zu bedenken, »der Direktor hat ihn angerufen. Er wusste als Einziger schon vorher Bescheid, dass wir kommen.«
»Aber du hast dich doch noch nicht mal mit deinem eigenen Namen bei ihm vorgestellt. Das hieße ja …«
»Dass er trotzdem gewusst hat, wer ich bin«, führte Jan den Gedanken fort. »So war es ja auch. Breitner schien doch von Anfang an zu wissen, dass mit meinem Namen etwas nicht stimmt …«
Katy schwieg beklommen. »Meinst du«, fragte sie nach einer Weile, »Breitner steckt da irgendwie mit drin?«
Jan nickte grimmig. »Irgendwas stimmt da jedenfalls nicht. Ich verstehe nur noch nicht ganz, was, verdammt. Aber so wie er zunächst bei der Geschichte mit Nolte gemauert hat, könnte ich mir vorstellen, dass es Breitner um mehr ging als nur um den guten Ruf seiner Schule.«
»Denkst du, er hat gelogen und die beiden haben noch Kontakt?«
»Das würde zumindest einiges erklären.«
»Scheiße«, murmelte Katy. Sie war blass geworden. Jan wusste nur zu gut, was gerade in ihr vorging. Sie bekam Angst. Zu Recht. Wenn Breitner in diese Sache verwickelt war, dann war jetzt vielleicht auch Katy in Gefahr. Warum bloß hatte er sie da mit hineingezogen?
Als Jan und Katy aus der Bahn stiegen, regnete es immer noch. Straßenlampen und Autoscheinwerfer warfen glitzernde Inseln auf den Asphalt. Immer wieder drehten sie sich um, mit dem diffusen Gefühl, verfolgt zu werden. Immer wieder musste Jan an Laura denken. Wo zum Teufel steckte sie nur?
An Gregs Haustür fummelte Katy einen einzelnen Schlüssel aus ihrer Jeans und öffnete. Als sie die Wohnung betraten, fiel ein Teil der Anspannung von ihm ab. Hier waren sie wenigstens sicher. Eine bleierne Müdigkeit überfiel ihn, außerdem hatte er seit einer Ewigkeit nichts mehr gegessen. »Meinst du, Greg hat noch etwas zu essen und ’ne Dose Bier im Kühlschrank?«
Katy grinste matt. »Falls du ’ne Fertigpizza suchst, da bist du bei Greg falsch. Aber Bier – kann schon sein. Wonach riecht das hier eigentlich?«
»Keine Ahnung.« Jan schlug den Weg zur Küche ein. Das Bier lief ihm in Gedanken schon die Kehle hinab. Er öffnete die Küchentür und blieb stehen, als wäre er vor eine Wand gelaufen. Beißender Gestank schlug ihm aus der Dunkelheit entgegen. Instinktiv presste er eine Hand vor Mund
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