Der Schönheitschirurg
willen?»
«Sie hat dich beschuldigt, ihr Avancen gemacht zu haben. Ein sehr dummer Versuch. Ich würde es nicht für nötig halten, alles zu wiederholen, was sie sagte, selbst wenn ich es noch wüßte. Ich war mit Bridget allein im Haus und fast schon eingeschlafen. Es war zu lächerlich, um auch nur peinlich zu sein. Ich kenne dich zu gut, mein Liebling.» Sie lächelte ihn an. «Und schließlich ist sie nur eine Frau aus der Arbeiterklasse.»
«Aber das ist doch unglaublich!» Graham bedeckte hastig seine moralische Blöße mit dem feurigen Mantel der Entrüstung. «Ich kann es einfach nicht verstehen. Ich nehme an, es kam daher, daß ich die Absicht hatte, sie hinauszuwerfen - sie wurde in letzter Zeit schrecklich unzuverlässig. Machte immer irgendwelche Fehler. Ein dummes Mädchen, wirklich.»
Maria schluckte ihre Tropfen. Sie reichte ihm den Mund zum Kuß. Er schmeckte das süßliche Chloralhydrat auf ihren Lippen. «Graham, du weißt wirklich sehr wenig von den Frauen.»
Er entkam. Er schritt in seinem Zimmer auf und ab. Er wollte sofort in die Marylebone High Street stürzen, aber es war zu riskant, das Haus zu verlassen, selbst wenn Maria unter dem Einfluß ihres Beruhigungsmittels stand. Früh am nächsten Morgen ging er direkt in die Queen Anne Street und bemerkte sofort, daß die Kinkerlitzchen, die sonst auf Kittys Schreibtisch im Vorzimmer standen - eine Blumenvase, eine Reiseuhr, eine Fotografie -, unheilverkündend abwesend waren. In seinem japanischen Sprechzimmer stand eine Schreibtischlade halb offen, und der Inhalt aller war durcheinandergebracht. Sie hatte offenbar gründlich herumgestöbert, ehe sie ging. Er eilte in die Marylebone High Street und fand die Wohnung verlassen, ihre Kleider verschwunden. Er stand fluchend in dem winzigen Schlafzimmer. Woher kam ihre Familie? Norfolk oder so ähnlich. Sie war höchstwahrscheinlich dorthin durchgebrannt. Aber er hatte jetzt keine Zeit, ihr nachzulaufen! Seine erste Operation im Blackfriars Hospital sollte in einer halben Stunde beginnen. Er fuhr ins Krankenhaus, Gott dankend, daß Maria das kleine Ekel nicht ernst genommen hatte. Die Abstumpfung ihrer Sinne mit den Jahren hatte einige wenige Vorteile.
Grahams letzte Woche in London war mit Sorgen im Krankenhaus und Komplikationen wegen seiner Reise zu sehr angefüllt, als! daß er so gelitten hätte, wie Kitty sich das vorgestellt hatte. Sie sandte ihm nicht einmal einen Brief. Er dachte daran, ihr nachzuspüren, sogar ein Detektivbüro zu beauftragen, entschied sich aber ¡ dagegen. Es könnte unter seinen Kollegen ruchbar werden. Dann i begann er sich zu sagen, daß es so am besten sei. Jetzt konnte er den Kopf hochtragen, sich in Zukunft anständig benehmen, als guter Gatte, Vater und Oberarzt am Blackfriars Hospital. Was das Mädchen aus dem Fotostudio anlangte, hatte John Bickley recht - sie verdiente keinen weiteren Gedanken. Er war beide glücklich los. Sein Leben würde von nun an tugendhaft einfach sein. Die langjährige Sorge über seinen Betrug war über Nacht verdampft. Das Gefühl war ausgesprochen belebend. Andererseits mußte er j zugeben, daß er Kitty doch recht vermißte, besonders Dienstag I und Donnerstag nachmittags.
Der Samstag kam. Das Luftschiff sollte endlich abfliegen. Graham wollte mit Robin, Edith und Desmond im Zug nach Bedford fahren, wo ein Dienstwagen warten würde. Er sollte um sechs Uhr j abends vom Flugfeld aufsteigen, und das Wetter an jenem Morgen j war scheußlich. Es war bitter kalt geworden, und der Wind riß die Bäume herum, bis sie halbnackt in den gesetzten Alleen von Primrose Hill standen. Nach dem Frühstück rief Graham die Daily Press an. Er erfuhr, daß alles glatt gehe, Mr. Arlott sei schon in Bedordshire, um den Abflug für seine Leser und die Nation zu ver- I folgen. Graham hatte kaum den Hörer aufgelegt, als es wieder läutete. Es war Tom Raleigh aus Blackfriars. Eine seiner Patientinnen j sei arg infiziert, und vielleicht könnte Graham noch vor der Abreise vorbeischauen.
Graham verabredete sich hastig mit den anderen für St. Pancras Station und eilte hinauf, um sich von Maria zu verabschieden. Es fiel ihm plötzlich auf, wie alt sie aussah. Wie alt war sie eigentlich?
Mitte Vierzig. Guter Gott! An diesem Vormittag schien sie wenigstens Sechzig. Vielleicht war es das graue Licht.
«Ich gehe jetzt», sagte er fröhlich zu ihr. «Ich muß noch in Blackfriars vorbeischauen.» Sie schien über den plötzlichen Abschied entsetzt. «Sorge
Weitere Kostenlose Bücher