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Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)

Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)

Titel: Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Beter klagt nicht nur, er klagt immer wieder an. Er, der direkt zu Gott spricht, nimmt sich heraus, was der Lehrer, der über Gott spricht, nicht wagen würde. Der Prophet Habakuk etwa wird durch die konkrete Erfahrung des Unrechts dazu gebracht, sich an Gott zu wenden, ohne angesprochen worden zu sein, Ihn zur Antwort herauszufordern und damit die übliche Beziehung zwischen Gott und den Propheten ins Gegenteil zu verkehren:
    Herr, wie lange soll ich schreien, und du willst nicht hören? Wie lange soll ich zu dir rufen über Frevel, und du willst nicht helfen? Warum läßt du mich Mühsal sehen und siehst dem Jammer zu? Raub und Frevel sind vor mir. Es geht Gewalt vor Recht. Darum ist das Gesetz ohnmächtig, und keine rechte Sache kann gewinnen. Denn der Gottlose übervorteilt den Gerechten; darum ergehen verkehrte Urteile. (Hab. 1,2–4)
    Die eingefahrene religiöse Erklärung, wonach Schuld Leid auf sich ziehe, die immerhin auch Sicherheiten bot und mit Riten und Gebeten Hilfsmittel zur Hand reichte, wird in der Hebräischen Bibel beinah so oft unterlaufen, wie sie untermauert wird.[ 5 ] Allein die Psalmen bestehen zur Hälfte aus Klagen darüber, daß Gott sinnloses Leid bewirkt oder jedenfalls nicht verhindert habe. Theologisch wie poetisch erschütternder als atheistische Kritik es je vermöchte, bringen sie das gottgemachte Elend zur Sprache. Psalm 74 etwa, die Volksklage über die Zerstörung des Tempels, verzichtet auf die übliche hymnische Anrede Jahwes, um bereits im ersten Vers vorwurfsvoll zu fragen: «Gott, warum verstößest du uns so gar und bist grimmig zornig über die Schafe deiner Weide?» Sowenig wie dieses Lied deutet Psalm 88 ein Schuldeingeständnis des Menschen an, mit dem Gottes Zorn als Strafe gerechtfertigt werden könnte. Der Text ist der aussichtslose Aufschrei eines lebenslang Kranken und als Gebet eine Ungeheuerlichkeit, auch weil er – anders als das Buch Hiob – vollkommen trostlos endet.
Herr, Gott, mein Heiland, ich schreie Tag und Nacht vor dir.
Laß mein Gebet vor dich kommen, neige deine Ohren zu meinem
      Geschrei.
Denn meine Seele ist voll Jammers, und mein Leben ist nahe dem Tod.
Ich bin geachtet gleich denen, die in die Grube fahren; ich bin ein Mann,
      der keine Hilfe hat.
Ich liege unter den Toten verlassen, wie die Erschlagenen, die im Grabe
      liegen, deren du nicht mehr gedenkst und die von deiner Hand
      abgesondert sind.
Du hast mich in die Grube hinuntergelegt, in die Finsternis und in die
      Tiefe.
Dein Grimm drückt mich nieder; du drängst mich mit all deinen Fluten.
Meine Freunde hast du ferne von mir getan, du hast mich ihnen zum
      Greuel gemacht. Ich liege gefangen und kann nicht herauskommen.
Meine Gestalt ist jämmerlich vor Elend. Herr, ich rufe dich an täglich;
      ich breite meine Hände aus zu dir.
Wirst du denn unter den Toten Wunder tun, oder werden die Verstorbenen
        aufstehen und dir danken?
Wird man in Gräbern erzählen deine Güte, und deine Treue im Verderben?
        Mögen denn deine Wunder in der Finsternis erkannt werden oder deine
        Gerechtigkeit in dem Lande, da man nichts gedenkt?
Aber ich schreie zu dir, Herr, und mein Gebet kommt frühe vor dich.
Warum verstößt du, Herr, meine Seele und verbirgst dein Antlitz vor mir?
Ich bin elend und ohnmächtig, daß ich so verstoßen bin; ich leide deine
        Schrecken, daß ich schier verzage.
Dein Grimm geht über mich; dein Schrecken drückt mich.
Sie umgeben mich täglich wie Wasser und umringen mich miteinander.
Du machst, daß meine Freunde und Nächsten und meine Verwandten sich
        ferne von mir halten um solchen Elends willen.
    Dieser Gott hat sich konsequent als Feind erwiesen, seit der Jugend des Psalmisten,[ 6 ] der sich keiner Schuld bewußt ist und sie sich auch nicht einreden läßt. Wie Hiob, wie die Narren und Heiligen Attars leidet er ohne erkennbaren Grund. Der Mensch ist Gottes Opfer: «Deine Schrecknisse vernichten mich», wie Buber und die Zürcher Bibel wortgleich Vers 17 wiedergeben. Das mag auch Jesus Christus gedacht haben, dessen letzte Worte, wie sie von den Evangelisten Markus (27,46) und Matthäus (15,34) überliefert werden, die Klagetradition der Hebräischen Bibel aufnehmen, genau gesagt Psalm 22,2: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» Anders als im Hauptstrom der kirchlichen Exegese lassen sie

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