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Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ortwin Ramadan
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überlegte, wie er anfangen sollte.
    Er hatte noch nie ein Tagebuch geführt, aber jetzt, wo die große Reise wie durch ein Wunder unmittelbar bevorstand, war er entschlossen alles aufzuschreiben. Von Anfang an. Falls er in der Wüste oder auf dem Meer umkam, würde Chioke wenigstens eine Erinnerung an ihn haben. Vielleicht konnte er ja eines Tages ihre Geschichte selbst lesen.
    Yobas Gedanken wanderten zu Adaeke. Hoffentlich ließ Big Eagle sie so lange in Ruhe, bis er in Europa angekommen war und sie mit dem Flugzeug nachholen konnte. Wenn er den Erwachsenen dort klarmachte, wie sehr er sie liebte, würden sie Adaeke bestimmt erlauben mit dem Flugzeug zu ihm zu kommen. Danach würden sie heiraten und ganz viele glückliche Kinder haben. Yoba lächelte. Wenn er die Augen schloss, konnte er das Meer beinahe riechen. Er selbst hatte es noch nie gesehen, aber sein Großvater hatte viele Geschichten darüber erzählt. So wusste er zum Beispiel, dass das Wasser salzig war und man es nicht trinken konnte, was ihm seltsam vorkam. Trotzdem musste das Meer einfach wunderbar sein. Immerhin wartete auf der anderen Seite ein besseres Leben auf ihn und seinen Bruder. Yoba kaute versonnen auf dem Bleistiftstummel herum. Dann wischte er ihn an seinem Hosenbein ab und schrieb den ersten Satz in das kleine Buch.

10.
    Die malerische Bucht lag Julian zu Füßen. Er thronte auf den Klippen und blickte auf das azurblaue Meer hinaus. Unter ihm tobte das Strandleben. Aus der Höhe betrachtet erinnerten Julian die zwischen den perfekten Liegestuhl- und Sonnenschirmreihen umherwuselnden Menschen an winzige Comicfiguren.
    Übergewichtige Männer mit roter Glatze und überquellendem Bauch, deren spindeldürre Beine in albernen Badehosen steckten, Zellulitismütter in zu engen Bikinis, dazu quäkende Kinder mit grellbuntem Schwimmgerät jeglicher Art – Julian verabscheute diese quietschende Ferienfröhlichkeit. Besonders nervig fand er das Jaulen der Jet-Skis. Wie aggressive Stechmücken jagten sie unermüdlich vor dem Strand auf und ab. Plötzlich fiel von hinten ein Schatten auf ihn.
    »Scusi, ist hier noch frei?«
    Julian drehte sich um und blinzelte gegen die Sonne. Das fremde Mädchen hatte ein Badetuch mit Pinguinen um die Hüften geschlungen, ihre nassen Haare fielen in Strähnen bis auf die Träger ihres roten Bikinioberteils. Sie musste zwischen den Klippen schwimmen gewesen sein, denn sie hatte Gänsehaut auf ihren nassen, braun gebrannten Armen.
    »Äh … klar!«, stammelte Julian. Die Unbekannte sah wirklich umwerfend gut aus.
    Sie ließ sich neben ihm auf den Klippen nieder, beugte ihren Oberkörper zur Seite und wrang ihre nassen Haare aus.
    »Das ist mein Lieblingsplatz«, erklärte sie unbekümmert. »Ich komme jeden Nachmittag nach dem Schwimmen hier hoch. Bist du neu im Hotel?«
    Sie wickelte das Handtuch von ihren Hüften und begann ihrepechschwarzen Haare trocken zu rubbeln. Julian bemühte sich um die angebrachte Lässigkeit.
    »Bin gestern angekommen«, erklärte er. »Mit meinen Eltern. Die braten irgendwo da unten vor sich hin.« Er deutete verächtlich hinunter zum Strand.
    »Dir gefällt es hier nicht?«
    »Na ja, das Meer ist ganz okay.« Julian wünschte sich, ihm wäre etwas Besseres eingefallen. Aber seine Zunge klebte ihm wie Kaugummi am Gaumen und in seinem Kopf herrschte gähnende Leere.
    Das Mädchen lachte. Julian atmete tief durch.
    »Ich heiße übrigens Julian«, stieß er schließlich hervor.
    »Und ich Adria!«, nuschelte sie durch das Frotteetuch vor ihrem Gesicht.
    »Wie das Meer?«, fragte er und bereute es schon im nächsten Augenblick.
    »Wie – das – Meer«, wiederholte Adria. Dem Ton nach zu urteilen hing ihr diese Frage zum Hals heraus. »Mein Vater ist der Geschäftsführer des Hotels. Wenn ich Schulferien habe, besuche ich ihn.«
    »Dann bist du ja Italienerin!«, stellte Julian überrascht fest. Er wunderte sich über ihr perfektes Deutsch. Man konnte sogar einen rheinländischen Akzent heraushören.
    »Nur zur Hälfte«, erklärte Adria. Sie tauchte unter dem Handtuch auf und kämmte mit den Fingern durch ihre Haare. »Mein Vater ist Italiener. Sizilianer, um genau zu sein. Er wurde in einem Kaff nicht weit von hier geboren. Aber ich lebe bei meiner Mutter in Köln. Und du? Wo lebst du?« Sie rollte das Badetuch zusammen und setzte sich darauf.
    »In Hamburg«, erwiderte Julian. Dann verstummte er. Er hättegerne tausend Sachen gesagt, aber stattdessen glotzte er schweigend auf das

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