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Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ortwin Ramadan
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Bruders. »Versprochen!«
    Dann lief er mit Chioke über den Kiesweg zum Tor.

9.
    Die Nacht machte die Stadt zu einem finsteren Labyrinth. Nur wenige Hauptstraßen waren beleuchtet, und dies auch nur, wenn gerade kein Stromausfall herrschte. Dennoch drängten die Menschen aus ihren Wohnungen, in denen sie sich den Tag über vor der Hitze und dem Sandsturm verkrochen hatten. Taschenlampen tanzten wie Glühwürmchen durch die Dunkelheit, überall hörte man Stimmen. Da viele Bewohner ohne Licht auf den Straßen unterwegs waren, musste man stets auf der Hut sein. Sonst stieß man im Dunkeln mit einem der wildfremden Schatten zusammen.
    Zum Glück war Yoba lange genug in der Stadt, um sich blind zurechtzufinden. Chioke lief dicht hinter ihm. In Yobas Kopf ging es drunter und drüber. Er hatte nicht nur die Hyäne getötet und den pockennarbigen Riesen angeschossen – erhatte den mächtigsten Gangsterboss der Stadt, den Herrscher über Leben und Tod, bedroht und bestohlen. Und das vor den Augen seiner eigenen Leute! Yobas Magen krampfte sich während des Laufens zusammen. Was er getan hatte, war glatter Selbstmord gewesen.
    Der Trageriemen der schweren Geldtasche scheuerte bei jedem Schritt an seinem Hals. Plötzlich blieb er abrupt stehen. Vor ihm zeichneten sich menschliche Umrisse in der Dunkelheit ab. Es waren mindestens vier. Sie unterhielten sich flüsternd. Eine Zigarette glühte in der Nacht. Yoba stieß seinen Bruder an, dann wechselten sie lautlos die Straßenseite.
    Chioke folgte ihm, als sei er durch ein unsichtbares Band mit ihm verbunden. Manchmal beneidete Yoba seinen kleinen Bruder. Chi-Chi schien nie zu begreifen, was um ihn herum geschah. Manchmal fragte sich Yoba, ob es nicht besser war, ihn in seiner Welt zu belassen. Vielleicht wollte sein Bruder gar nicht geheilt werden. Vielleicht war er da, wo er jetzt war, ja viel glücklicher als in der richtigen Welt. Yoba konnte das gut verstehen.
    Endlich hatten sie ihr Ziel erreicht. Normalerweise brannte an einem Pfahl in der Mitte des Parkplatzes eine Lampe, aber jetzt war sie erloschen. Offenbar herrschte im Viertel mal wieder Stromausfall. Yoba rüttelte an dem mit einer schweren Kette abgesperrten Tor des Zauns und lauschte. Aus dem Bretterverschlag auf der anderen Seite drang Anthonys Schnarchen. Als sich die Scheinwerfer eines Autos näherten, zog Yoba seinen Bruder schnell hinter einen Betonklotz in Deckung.
    »Na los!«, flüsterte Yoba, nachdem der Wagen vorüber war. »Du zuerst!«
    Er formte mit den Händen eine Räuberleiter und half seinem Bruder über den Zaun. Anschließend kletterte er ebenfalls hinüber. Kaum hatte er wieder Boden unter den Füßen, stürmte er in den Bretterverschlag.
    »Anthony!« Der Parkplatzwächter lag friedlich schnarchend auf seiner ausgebauten Rückbank. Yoba rüttelte ihn, aber nichts schien den alten Mann aufwecken zu können.
    Er entzündete eine Kerze und versuchte es noch einmal. »Anthony! Wach auf! Du musst uns helfen!«
    Endlich hatte er Erfolg. Der alte Mann richtete sich mühsam auf und rieb sich die Augen. »Was … was ist passiert?«, lallte er. Sein fadenscheiniger Pyjama schien ebenso in die Jahre gekommen zu sein wie er selbst.
    »Du musst uns helfen!«, erklärte Yoba. »Chi-Chi und ich müssen sofort aus der Stadt verschwinden!«
    »Ist die Polizei hinter euch her?« Anthony war mit einem Mal hellwach.
    »Viel schlimmer!«, erwiderte Yoba. »Big Eagle.«
    Der alte Parkplatzwächter öffnete den Mund, als wolle er sagen, ich habe dich ja gewarnt, aber dann schwieg er doch.
    »Er wollte Adaeke wehtun!«, erklärte Yoba verzweifelt. »Ich musste etwas unternehmen, verstehst du? Sie hätten zugesehen, wie die Hyäne sie auffrisst!«
    Er hatte Tränen in den Augen. Anthony berührte ihn mit seinen knochigen Fingern.
    »Und jetzt will er mich töten!«, fuhr Yoba leise fort. »Und Chi-Chi auch. Deshalb müssen wir uns verstecken.«
    »Und wo?«, fragte Anthony. »Big Eagle gehört fast die ganze Stadt.«
    »In Europa, bei meinem Onkel!« Yoba wischte sich eineTräne aus dem Augenwinkel. Er zog den Reißverschluss der Tasche auf und griff hinein. »Sieh nur, Geld haben wir genug! Alles Dollars!«
    Beim Anblick der Geldbündel verfinsterte sich das Antlitz des alten Mannes endgültig. »Das ist Blutgeld«, sagte er. »Damit will ich nichts zu tun haben. Außerdem ist es Diebstahl.«
    Anthony stand mühsam von seinem Bett auf und spähte durch einen Bretterspalt nach draußen. Auf der Straße fuhr ein

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